ERÖFFNUNGSZUG
Die Lokomotive
Freitag, 18. Februar 1972: Mitternacht
Selbst im Jahr 1972, das kaum als ein Jahr des Friedens in die Geschichte eingehen wird, war es nicht alltäglich, daß ein Expreßzug mitten in der Nacht – und dazu noch auf freier Strecke – angehalten und ein Passagier von Bewaffneten herausgezerrt wurde. Jedenfalls nicht bei einem amerikanischen Expreß.
Daß ihm solches widerfahren könnte, daran dachte Keith Beaumont, als er sich im Bett eines Schlafwagens des Florida-Expresses entspannte, nicht einmal im Traum. Erstens brauste der Zug mit zweiunddreißig Waggons und einer Geschwindigkeit von hundertfünfzig Kilometer durch die Carolinas, während ein winterlicher Sturm gegen die verhängten Fenster schlug; und zum zweiten war der nächste planmäßige Aufenthalt mehr als zwei Stunden entfernt.
Im Schlafwagen war es feucht, heiß und stickig, da die Fenster wegen des Sturmes fest verriegelt waren und die Zentralheizung voll aufgedreht war. So heiß, daß der große Engländer Schwierigkeiten hatte einzuschlafen. Er stützte sich auf den Ellbogen und schaute auf seine Uhr. Fast Mitternacht. Hinter dem geschlossenen Vorhang, der ihn vom Korridor trennte, legte er sich auf sein Kissen zurück, die Hände hinter seinem starken Nacken verschränkt, und träumte mit offenen Augen.
Morgen würde er in Miami sein, Tausende von Kilometern von Grönland entfernt – weit entfernt davon, verängstigte Hunde durch heulende Schneestürme zu führen, bockende Schlitten über bröckelndes Eis zu schleppen, und weit entfernt vor allem von der endlosen Dunkelheit und Kälte, die den Verstand lähmten. Es war wunderbar, einmal wieder im Trockenen zu sein; Beaumont drückte seine Füße fest gegen das Bettende und aalte sich in der Wärme.
Dreißig Kilometer vor dem Expreß, der durch die stürmische Nacht donnerte, standen drei bewaffnete Männer – nicht so trocken – im strömenden Regen zusammengekauert unter dem Schutzdach eines Bedarfsbahnhofes irgendwo auf freier Strecke und warteten auf den anrollenden Zug. Planmäßig sollte er, wie gesagt, erst in etwa zwei Stunden halten, aber schon stellten sich ihm die Signale in den Weg, und der Führer der riesigen Diesellok, die den sehr langen Zug schleppte, zog bereits die Bremsen an. Gefahr lag in der Luft.
»Ich hoffe, daß er überhaupt im Zug ist«, murmelte einer der Männer in den Regenmänteln, während er eine durchweichte Zigarette zwischen den Zähnen zusammenpreßte.
»Das ist er bestimmt«, versicherte der vierzigjährige Anführer der Gruppe seinen zwei Begleitern. »Und wir werden ihn herausholen.«
»Es könnte heikel werden…«
»Das hier garantiert, daß es nicht heikel wird.« Der Ältere nahm einen 45er Colt aus seiner Tasche, prüfte die Trommel und steckte ihn wieder ein. »Und denk daran, Jo, es muß echt aussehen, ganz echt.«
Weniger als dreißig Kilometer weiter zurück starrte der Führer des Florida-Expreß besorgt in die Nacht. Das soeben passierte Signal halte, der Fahrtbestimmung gänzlich zuwider, eine Verminderung der Geschwindigkeit befohlen. Was zum Teufel ging hier vor? Er setzte die Geschwindigkeit weiter herab und zog langsam die Hauptbremsen an. Regen hämmerte gegen das Stahldach des Führerstandes. Gischtfahnen stoben vom Dach und verschwanden in der Nacht. Der Zug brauste am nächsten Signal vorbei. Rot für Gefahr, also bremsen. Verflucht, was war hier los? Er legte die Bremsen stärker an. Sie waren in der Nähe von Cedar Falls, einer nicht eingeplanten Station.
Zwei Minuten später kam der Zug zum Stehen. Ein Donnerschlag rollte, und der Regen peitschte gegen die Waggons. Beaumont schlief in seinem Abteil gerade ein, als der Zug hielt, seine Hände lagen auf dem Laken zusammengefaltet. Er hatte die Augen geschlossen, als plötzlich die Vorhänge aufgerissen wurden und ein Mann mit durchnäßter Hutkrempe auf ihn hinabschaute, während er ihn mit einem Foto in seiner linken Hand verglich. »Er ist es, Jo«, sagte eine leise Stimme. Beaumont öffnete die Augen und starrte in die Mündung eines 45er Revolvers.
»Tu das Ding weg«, murmelte er. »Es könnte losgehen – Ihre Hand ist klebrig.«
Beaumont registrierte mehrere flüchtige Eindrücke: den durchnäßten Regenmantel des Mannes, der den Revolver hielt; den Dampf, der von den Ärmeln aufstieg; den verängstigten Ausdruck im Gesicht des Passagiers im gegenüberliegenden Abteil und den zweiten Mann im Regenmantel, der im Hintergrund stand, eine Hand in der Tasche. Der ältere Amerikaner, der offensichtlich unter der Hitze litt, denn Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, antwortete mit gedämpfter Stimme.
»Ziehen Sie sich an – Sie steigen aus…«
»Und wer zum Teufel sind Sie?« wollte Beaumont wissen.
Er war erschöpft von seiner langen Reise von Grönland nach Washington. Daher schätzte er seine Chance vorsichtig ab. Ein kurzer kräftiger Schlag, um dem Bewaffneten den Colt aus der Hand zu schlagen, ein Knie in die Lende… Nein, es war zu gefährlich, wo sich andere Passagiere im Schlafwagen befanden.
»Dixon, vom FBI«, fuhr ihn der Mann mit der schweißnassen Stirn an. »Und beeilen Sie sich – der Zug kann nicht die halbe Nacht hier warten.«
»Das braucht er auch nicht – von mir aus kann er sich wieder in Bewegung setzen. Mit mir an Bord. Und Sie haben einen schweren Fehler gemacht – ich bin Engländer…«, Beaumont langte nach seiner Jacke, die an einem Haken hing.
»Paß auf…«, warnte Dixon.
Der Engländer fixierte ihn über seine breiten Schultern zurück mit einem Blick. Dixon war nicht ganz wohl dabei.
»Herrgott noch mal, ich wollte Ihnen meinen Paß zeigen«, knurrte Beaumont. Vorsichtig, mit gespreizten Fingern, zog er ihn aus dem Jackett und überreichte ihn Dixon. Der Amerikaner schlug den Paß gekonnt mit einer Hand auf, prüfte ihn einen Augenblick und zeigte ihn dann dem Mann hinter sich. »Ganz klar gefälscht, Jo.«
Beaumont erwiderte nichts. Er warf die Bettdecke zurück und erschien, abgesehen von Krawatte, Jackett und Schuhen, völlig angezogen. Während der Engländer aus dem Bett stieg und sich aufrichtete, wich Dixon zurück und starrte ihn an. Keith Beaumont, zweiunddreißig Jahre alt, war ein Meter fünfundachtzig groß, breitschultrig und über hundertachtzig Pfund schwer. Allerdings war Dixon, der den Engländer beim Anziehen beobachtete, nicht sonderlich beeindruckt: Bullen waren schwerfällig. Nach einer Minute schaute er auf die Uhr. »Beeilen Sie sich«, wiederholte er. Er hatte recht; die Reflexe dieses Mannes waren nicht gerade schnell.
»Zieh Leine.«
Der Passagier gegenüber erholte sich allmählich von seinem Schock. »Ich heiße Andrew Phillipson, aus Minneapolis«, informierte er Dixon in geschäftigem Ton. »Dieser Mann sagte, er sei aus Grönland – Grönland, wo all das Eis ist. Mir kam das schon komisch vor…«
»Er wird gleich aussteigen«, unterbrach Dixon. »Dann können Sie weiterschlafen.« Er sah Beaumont an, der inzwischen fertig war. »Ist das Ihr Koffer? Gut. Und nun legen Sie beide Hände auf das Bett – nebeneinander.« Es war ein schwaches metallisches Klirren zu hören, als Dixons Begleiter seine Hand aus der Tasche nahm. Beaumont schüttelte seinen massigen Kopf, der mit dichtem dunklem Haar bedeckt war, und lächelte grimmig. »Damit Ihr Freund mir die Handschellen anlegen kann? Da spiele ich nicht mit, Dixon. Entscheiden Sie sich: Entweder ich gehe so mit, oder Sie erschießen mich.«
Sie gingen den Korridor entlang. Beaumonts Hände waren noch frei. Der Mann, der Jo genannt wurde und den Koffer des Engländers trug, ging voraus, während Dixon die Nachhut bildete. Vorhänge, die die kleinen Abteile abschirmten, wurden zur Seite geschoben, und die Passagiere starrten auf die kleine Prozession. Nackte Füße tappten hinter Dixon den Korridor hinunter. Es war Phillipson, der sich beeilte, sie einzuholen. »Wer ist dieser Mann?« rief er aufgeregt. »Er hat sich mit mir unterhalten. Vielleicht kann ich helfen…«
»Entflohener aus Folsom«, erwiderte Dixon knapp.
Beaumont stolperte, als er mit hängenden Schultern die steilen Stufen am Waggonende hinunterstieg. Groß, schläfrig und ungeschickt, stellte Dixon fest. Beaumont blieb auf den Schienen stehen, um seinen Mantel zuzuknöpfen und den Hut über die Ohren zu ziehen. Cedar Falls bestand aus einem kleinen einstöckigen Gebäude am Rande eines Waldes. Ein Seiteneingang führte auf eine Straße. Beaumont registrierte es, als ein Blitz einen kurzen, spärlichen Eindruck von dem Wind vermittelte, der die Bäume gegen Süden beugte. Dann fegte eine Regenwand die Schienen entlang. Er war naß bis auf die Haut. Einige Meter entfernt sah einer der Eisenbahner mit einer Mischung aus Nervosität und Neugier zu. Ein zweiter Eisenbahnbeamter stand unter dem Vordach der Station. Dixon kam hinter Beaumont die Stufen herunter und stieß ihn mit dem Colt.
»Los – durch den Ausgang.«
Sie gingen weiter. Der andere Amerikaner ging ein Stück voraus und trug Beaumonts Koffer. Plötzlich blitzte es erneut, diesmal aber keineswegs vom Gewitter. Der Beamte unter dem Vordach hatte Beaumont mit einer Polaroid-Kamera fotografiert. »Jo«, rief Dixon, »hol das Foto.«
Während Beaumont zum Ausgang stapfte, bewegte sich Jo in Richtung des Bahnhofs. Ein weiterer Blitz beleuchtete den Wagen hinter dem Ausgang, auf den sie zusteuerten. Ein großer roter, teuer aussehender Wagen. Der Regen prasselte auf das Dach.
Beaumont ließ seine Schultern noch mehr hängen und achtete darauf, sein Tempo nicht zu ändern und keine Reaktion zu zeigen. Aber er war sich jetzt sicher: Diese Männer waren keine FBI-Agenten.
Sie traten durch den Ausgang hinaus in die Dunkelheit und entfernten sich von den verschwimmenden Lichtern des Zuges. Sie stapften durch schlammige Pfützen. Am Steuer des Wagens saß ein dritter Mann, der ihnen sein Gesicht zuwandte und sie beobachtete. Dixon öffnete die Hintertür für den Engländer, der in seinen Manteltaschen fummelte, die Dixon, bevor Beaumont den Mantel anziehen durfte, durchsucht hatte. Er nahm ein Päckchen Zigaretten heraus und nickte in Richtung des Wageninneren.
»Schon gut, Dixon«, sagte er freundlich. »Ich hab’ schon begriffen. Ich komme mit.« Er hielt das brennende Streichholz in der hohlen Hand und stand hinter der halbgeöffneten Tür. Der Amerikaner zögerte. Der plötzliche Stimmungswechsel irritierte ihn. Eine Sekunde später revidierte er seine Meinung über Beaumonts Größe und Schwerfälligkeit – eine Sekunde zu spät. Der Engländer rammte seinen großen Körper mit Wucht brutal gegen die Wagentür. Dixons Hand und Arm waren eingequetscht.
Es war ein akzeptables Risiko; Beaumont hatte es überlegt. Schlimmstenfalls würde der Schuß harmlos im Wageninneren losgehen; im besten Fall würde der Colt durch die Lücke zwischen der fast geschlossenen Tür und dem Türrahmen in den Schlamm fallen. Beaumont bückte sich so schnell, daß Dixon die Bewegung nur undeutlich wahrnahm, kam mit dem Colt wieder hoch und warf den Verletzten mit dem Gesicht nach unten auf den Rücksitz. Die Mündung des Colts zeigte auf den Mann auf dem Vordersitz, der überhaupt keine Zeit gehabt hatte, etwas zu unternehmen. »Langsam, Jungchen«, warnte Beaumont. »Diese Dinger sind bekannt dafür, daß sie manchmal Peng machen.«
Im Spiegel sah er, wie Jo mit dem Koffer durch den Ausgang kam. Er behielt den Mann hinter dem Steuer im Auge und brüllte einen Befehl, den Jo kaum überhören konnte. »Bleiben Sie stehen – falls Sie wollen, daß Ihre Kumpane am Leben bleiben.«
»Zum Teufel noch mal, wir sind vom FBI«, sagte der Mann hinter dem Steuer mit gequälter Stimme.
»Das stimmt, Beaumont…«, Dixon ächzte gequält, während er über den Rücksitz ausgebreitet liegenblieb und sein rechtes Handgelenk hielt.
»Beweisen Sie es!« fuhr Beaumont ihn an. »Und halten Sie den Koffer schön fest – mit beiden Händen«, rief er Jo zu, während er den dritten Amerikaner durch den Rückspiegel im Auge behielt.
Dixon benutzte seine linke Hand, um mit gespreizten Fingern einen Ausweis hervorzuziehen.
»Machen Sie Licht, damit ich dieses Ding sehen kann«, schnauzte Beaumont. Er beobachtete den Mann hinter dem Steuer, der einen Schalter drückte, und blickte flüchtig auf die Karte. »Ganz klar gefälscht«, bemerkte er zynisch.
»Dafür könnten Sie hinter Gitter kommen«, ließ ihn der Dreißigjährige hinter dem Steuer wissen.
»Unter welcher Anklage?« fragte Beaumont.
»Widerstand gegen die Staatsgewalt…«
»Staatsgefasel!« Beaumont schaute den Mann auf dem Rücksitz düster an. »Sie steigen in einen Zug und halten mir, während ich schlafe, einen Revolver unter die Nase. Es fällt Ihnen noch nicht einmal ein, mir Ihre Erkennungsmarke zu zeigen…«
»Es mußte so sein, Beaumont«, beteuerte Dixon müde. »Es mußte gut aussehen…«
»Ich bin noch nicht fertig. Ich gebe mich noch lange nicht zufrieden! Seit wann flitzt der FBI in Lincoln Continentals herum – oder seid ihr alle plötzlich Millionäre geworden?«
»Sagt Ihnen der Name General Lemuel Quincey Dawes etwas?« fragte Dixon. »Und darf ich Ihnen noch etwas zeigen?«
»Ich glaube, ich habe den Namen mal in der Zeitung gelesen«, meine Beaumont knapp. Er hielt den Colt noch immer auf den Mann hinter dem Steuer gerichtet und ließ Jo weiterhin mit beiden Händen den Koffer umklammern.
»Sie dürfen mir etwas zeigen – wenn Sie vorsichtig sind.«
Das Etwas war ein gefaltetes Stück Papier, das, entfaltet und von Dixon ins Licht gehalten, sich als ein kurzer Brief in einer auf fallenden Handschrift erwies, die Beaumont erkannte. ›Keith – wir sitzen in einer Klemme, ein sehr dringender Fall. Ich brauche Sie sofort wieder in Washington. Tun Sie mir einen persönlichen Gefallen. Ihr Lemuel.‹
»Scheißkerl«, kommentierte Beaumont schlicht. »Ich komme nicht – höchstens aus dem Regen in den Wagen hinein.« Er stieg ins Auto und lehnte sich vorsichtig gegen das weiche Leder. Dixon machte Platz und setzte sich aufrecht. Er hielt immer noch seine rechte Hand. »Kaputt?« fragte der Engländer.
Er betrachtete den Amerikaner hinter dem Steuer, der ihnen noch zugewandt war und Beaumont anstarrte wie ein Schlächter, der sich soeben daranmachte, sein Opfer zu zerlegen.
»Sie werden sich den Hals verrenken«, bemerkte Beaumont.
»Ihren möchte ich am liebsten umdrehen«, erwiderte der Mann hinter dem Steuer gelassen.
»Schon gut, Fred«, sagte Dixon irritiert. »Aber wissen Sie, Beaumont, das war ganz schön riskant von Ihnen…«
»Riskant?« explodierte der Engländer. »Sie wecken mich, indem Sie mir einen Revolver zwischen die Zähne stecken, und wenn meine Reflexe nicht besonders gut funktionieren…«
»Dann möchte ich nicht dabei sein, wenn sie funktionieren«, ergänzte Dixon gequält, während er sein Handgelenk rieb. »Und das mit dem Lincoln Continental sehe ich ein – mein Wagen hatte eine Panne auf dem Weg vom Flughafen hierher, und das war der erstbeste Wagen, den wir schnappen konnten.« Auf dem Vordersitz zündete Fred, der Beaumont nun den Rücken zugedreht hatte, den Motor.
»Den kann er wieder abstellen«, befahl Beaumont barsch. »Wir bleiben noch hier.«
»Mach aus, Fred.« Dixon schien zerknirscht. »Wir fahren nicht. Noch nicht«, fügte er hinzu. »Sehen Sie, Mr. Beaumont«, sagte er sehr höflich, »es war eine schlimme Nacht für uns – noch bevor wir Sie trafen. Wir mußten von Washington durch ein Gewitter hierherfliegen – es gab heute abend keine Linienflüge.«
»Weiß ich«, sagte Beaumont forsch und zündete sich eine neue Zigarette an. »Ich wollte nach Miami fliegen, als man mir sagte, daß ein allgemeines Startverbot erteilt worden war. Deswegen mußte ich ja mit dem Zug fahren.«
»Es war die reinste Hölle, einen Flughafen zu erreichen, der dem Zug vorauslag«, fuhr Dixon fort. »Dann mußten wir einen Wagen finden, der uns rechtzeitig hierherbrachte, um den Expreß anzuhalten. Da können Sie sehen, wie dringend man Sie in Washington zurückhaben will. Und noch etwas – bis heute abend hat der Florida-Expreß seit fünf Jahren keinen außerplanmäßigen Aufenthalt gehabt…«
»Wir machen alle irgendwann einen außerplanmäßigen Aufenthalt«, erwiderte Beaumont. »So wie ich jetzt. Was sollte das übrigens bedeuten – ein Entflohener aus Folsom?«
»Das war Deckung«, seufzte Dixon. »Die Sicherheitsvorkehrungen bei dieser Sache sind schärfer als beim Besuch eines Staatsoberhauptes. Die anderen Reisenden werden glauben, daß wir einen Kriminellen aus dem Zug geholt haben – falls jemand wie dieser geschwätzige Phillipson es sich in den Kopf setzt, die Presse zu informieren. Übrigens halte ich den Zug noch immer an«, fügte Dixon hinzu.
»Das ist Ihre Sache. Die Sicherheitsvorkehrungen bei welcher Sache? Dawes verrät mir so gut wie gar nichts in seinem Brief.«
»Darüber weiß ich nichts…«
»Gute Nacht!« Beaumont öffnete die Tür, knallte sie aber wieder zu, als Dixon fortfuhr: »Wir wissen, daß Sie ohne Unterbrechung zwei Jahre in der Arktis verbracht haben und in Urlaub fahren wollten; aber ich habe Anweisung, Ihnen als letztes Lockmittel zu erzählen, daß Sam Grayson und Horst Langer ihre Hilfe zugesagt haben. Ich nehme an, Sie kennen diese Männer?«
Beaumont setzte sich in seinem Sitz aufrecht und starrte in den Regen, der gegen die Windschutzscheibe schlug. Dixon beobachtete ihn neugierig, bemerkte die kurze Nase, den festen Mund, die Linie des Kiefers, die Energie und Entschlußkraft ausdrückten. Es waren die Augen, fand er, die ihn am meisten störten, diese großen braunen Augen, die ihn anstarrten, ohne zu blinzeln, und die ihn zu durchdringen schienen.
Der Engländer nahm seinen tropfenden Hut ab, wandte sich Dixon zu und lächelte ihn ernst an. »Sie hatten einen turbulenten Flug hierher?« erkundigte er sich.
»Wir waren alle luftkrank.«
»Schade. Ich fürchte, Sie werden wieder luftkrank werden. Ich habe mit Grayson und Langer eine Menge durchgemacht, also werde ich nach Washington zurückkehren müssen. Lassen Sieden Zug abfahren, und bringen Sie mich dann schnell zum Flughafen. Es sieht tatsächlich aus, als hätte Dawes einige Schwierigkeiten.«
In einem plötzlichen Einfall reichte er Dixon den Colt.
Am Samstag, dem 19. Februar, brannten um drei Uhr früh in der obersten Etage des Gebäudes der National Security Agency in Washington noch immer die Lichter. Die NSA, die der Öffentlichkeit weit weniger bekannt ist als der CIA, ist einer der erfolgreichsten Nachrichtendienste der Welt, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie weniger im Rampenlicht steht als ihr berüchtigteres Gegenstück. Auf jeden Fall gibt sie einen größeren Etat wirkungsvoller aus.
General Dawes war ein kleiner, stark gebauter Dreiundfünfzigjähriger, der das Aussehen eines Managertyps hatte. Er trug tristgraue Straßenanzüge, hatte eine Vorliebe für tropische Pflanzen und haßte kaltes Wetter. Wahrscheinlich wurden ihm deshalb Angelegenheiten in der Arktis übertragen. Am 19. Februar um drei Uhr früh schritt er in seinem kurzärmeligen Hemd in seinem Büro auf und ab, leicht schwitzend bei der Zimmertemperatur von 28 Grad, die durch ein ausgeklügeltes Kontrollsystem konstant gehalten wurde.
Achtundzwanzig Grad waren notwendig, um die tropischen Pflanzen, die sein Büro schmückten, am Leben zu erhalten. Seine weniger ehrerbietigen Mitarbeiter pflegten das Zimmer die Dschungel-Box zu nennen.
»Beaumont ist soeben angekommen. Sie sind gerade auf dem Weg vom Flughafen hierher, Herr General…«
Dawes’ Assistent Jerry Adams hielt seine schlanke Hand über die Sprechmuschel des Telefons, als er fortfuhr. »Die Maschine hätte sich bei der Landung fast überschlagen. Aber er ist okay. Irgendwelche besondere Anordnungen? Wir haben Funkverbindung mit dem Wagen, der ihn herbringt…«
»Bringen Sie ihn einfach her – möglichst schnell!«
»Er könnte zuerst ins Hotel sich frisch machen«, drängte Adams. »Das würde uns ein bißchen Zeit geben, die Sache durchzukauen…«
»Wir haben ihn aus diesem Expreß herausgezerrt«, knurrte Dawes. »Ich kenne ihn – er geht schon jetzt die Wände hoch. Es wird nicht leicht sein, ihn zu überreden, und das wird noch viel schwieriger, wenn wir ihn einfach abstellen oder ihm Zeit zum Überlegen geben. Ich muß ihn in diese Sache regelrecht reinstoßen. Also bringen Sie ihn her!«
Adams, ein schmaler, fünfunddreißigjähriger Intellektuellentyp, zog in wortloser Mißbilligung seine dunklen Augenbrauen hoch und gab die Anweisung weiter. Dann legte er den Hörer auf und rückte seine randlose Brille zurecht. »Ich sehe immer noch nicht ein, warum wir diesen Engländer brauchen. So wie ich die Sache sehe, ist es eine einfache Operation, die unsere eigenen Jungs erledigen können. Sobald wir wissen, daß Gorow in Richtung Target 5 aufgebrochen ist, schicken wir ein Flugzeug, es nimmt ihn an Bord und fliegt ihn raus…«
»Einfach?« Dawes mit seinem federnden Gang vollendete eine weitere Runde durch sein Zimmer und setzte sich hinter seinen großen, leeren Schreibtisch. »Einfach?« wiederholte er leise. »Genauso einfach wie vom PanAm-Gebäude zu fallen – so kann man sich natürlich auch das Genick brechen.«
»Mit einem bißchen Glück könnte es glatt ablaufen…«
»Einem bißchen Glück?« Dawes’ ruhiger Ton trog. »In dem Punkt könnten Sie recht haben, Adams«, fuhr er milde lächelnd fort. »Ein wichtiger Russe läuft zu uns über, vielleicht der wichtigste Russe überhaupt, der jemals die Sowjetunion verlassen hat. Stimmt’s?«
»Das ist wahr«, gab Adams einfältig zu.
»Er wird um sein Leben laufen müssen«, fuhr Dawes im selben gleichmäßigen Ton fort. »Er startet von der sowjetischen Eisinsel Nordpol 17* und wird versuchen, sich zu unserem nächsten Forschungsstützpunkt Target 5 durchzuschlagen, der sich in diesem Augenblick zufällig vierzig Kilometer westlich der sowjetischen Insel befindet. So, wie es jetzt steht, befinden sich nur drei Professoren auf Target 5, die auf ihre Evakuierung warten, bevor die Insel auseinanderbricht. Können Sie mir folgen?« erkundigte er sich.
»Vollkommen, Sir…«
»Keiner der drei Professoren auf Target 5 ahnt, was kommen wird – daß Gorow bald auf dem Weg über das Packeis zu ihnen kommen wird.« Dawes redete jetzt schneller, wobei er Adams’ Blick mit seinen kalten blauen Augen festhielt. »Wir können es ihnen nicht sagen, weil sie nicht unter Geheimhaltungsstufe eins fallen…«
»Vielleicht sollten wir ihnen trotzdem einen Funkspruch durchgeben«, schlug Adams vor, »ihnen einen Tip geben.«
»Von wegen Tip! Wir wissen erst seit kurzem, daß Gorow kommen will. Ein ganzes Flugzeug voller Männer darf ich nicht zu früh rüberschicken, weil es die Russen aufmerksam machen würde. Sie könnten ihren Stützpunkt abriegeln. Dann wäre auch Gorow eingeschlossen. Der Witz an der Sache ist, daß zu diesem Zeitpunkt die Lage auf Target 5 völlig normal und totenstill erscheinen muß.«
»Ich sehe immer noch nicht, was Beaumont damit zu tun hat.«
Dawes betrachtete Adams eingehend, bevor er antwortete. Mit seinen fünfunddreißig Jahren hatte Jerry Adams mehr akademische Qualifikationen für diese Position, als Dawes sich hatte merken können. Er sprach fließend sechs Sprachen, einschließlich Russisch und Serbokroatisch. Er war Experte in Kryptographie, Funkspezialist, und mit fünf anderen teilte er den Ruf, die besten Verhöre in den Vereinigten Staaten zu führen. Es gab nur eine Qualifikation für die Arktis, die ihm fehlte: Das einzige Eis, das er je in seinem Leben gesehen hatte, war das Eis im Cocktailglas.
»Nebel«, sagte Dawes.
»Nebel?«
»Nehmen wir an, Target 5** ist von Nebel eingeschlossen«, begann Dawes ernst. »Wie kommen wir hin, um Gorow rauszuholen? Wir können nicht einfliegen, wir können kein Schiff durch massives Packeis schicken, also werden wir zu Fuß gehen müssen, mit einem Schlitten über das Eis. Deswegen könnten wir Beaumont brauchen.«
»Er ist so etwas wie eine letzte Rettung?«
»Ja.« Dawes schaute zu der geschlossenen Tür seines Büros, als könnte Beaumont jeden Augenblick im Türrahmen erscheinen. »Der Haken ist nur, daß er nicht weiß, daß er nur eine Art letzte Rettung ist, und ich habe nicht vor, es ihm unter die Nase zu binden. Um Ihr besorgtes Gehirn zu beruhigen, Adams, werde ich Ihnen seine Qualifikationen aufzählen.«
»Haben wir sonst niemanden, der einen Schlitten über das Packeis führen könnte?« fragte Adams ungläubig. »Das ist doch wirklich eine einfache Aufgabe.«
»Manchmal frage ich mich, warum ich Sie angestellt habe«, seufzte Dawes mit einem echten Ton der Verwunderung in der Stimme. »Schlittenführen ist das rauheste und härteste Geschäft, das der liebe Gott geschaffen hat.« Er stand auf und ging rasch zu einer riesigen Wandkarte. »Kommen Sie her, und ich werde Ihnen etwas beibringen, was man auf Harvard versäumt hat, Ihnen zu erzählen.«
Er starrte auf die Karte der arktischen Zone. Ganz oben war die Küste Rußlands mit Murmansk und Leningrad auf der rechten Seite zu erkennen. Der Mittelpunkt der Karte war der Nordpol, unterhalb Spitzbergen, Grönland und die Küste von Kanada und Alaska. Die Markierungsnadel, die die gegenwärtige Position von Target 5 angab, steckte sehr tief, genau über der Eisberg-Gasse, einem gefährlichen Trichter von treibendem Eis zwischen Grönland und Spitzbergen.
»Target 5 driftet zur Zeit hundertfünfundachtzig Kilometer von der Küste Grönlands entfernt«, sagte Dawes ruhig. »Vierzig Kilometer weiter östlich ist der sowjetische Stützpunkt Nordpol 17, von wo Gorow sich absetzen will. Jeden Tag driften die beiden Eisplatten, die diese Stützpunkte tragen, mit dem Packeis näher zur Eisberg-Gasse hin. Beaumont nennt es den gefährlichsten Ort der Erde, und ich bin derselben Meinung.«
»Seine Qualifikationen?« drängte Adams.
»Ungewöhnlich. Seine Mutter war Kanadierin, sein Vater Engländer; er fiel im Krieg. Inzwischen ist auch die Mutter gestorben. Beaumont wurde 1943 als Kind nach Kanada gebracht und kam nach Coppermine am Rande der Arktis. Er wuchs im Eis auf, in der Nähe der Gegend, wo die Eisinseln entstehen, wenn sie vom kanadischen Schelfeis abbrechen. 1952 wurde er zur Ausbildung nach England zurückgeschickt, wo er anfing, sich für die Fliegerei zu interessieren. 1965 heiratete er – er war damals fünfundzwanzig Jahre –, und drei Wochen nach der Hochzeit wurde seine Frau von einem Betrunkenen, der Fahrerflucht beging, getötet.«
»Ein Alptraum«, murmelte Adams.
»Für den Fahrer, ja. Er wurde gefunden und angeklagt. Beaumont war im Gerichtssaal, als der Fahrer in London verurteilt wurde. Bevor man ihn aus dem Zeugenstand zurückführen konnte, hatte Beaumont sich auf ihn gestürzt und hätte ihn fast umgebracht. Er wurde mit Bewährung entlassen und kam direkt zurück nach Kanada.«
»Das muß vor sieben Jahren gewesen sein«, schätzte Adams.
»Schön zu sehen, daß Sie rechnen können«, bemerkte Dawes. »Seitdem verbrachte er die meiste Zeit in der Arktis, arbeitete teilweise für die Leute des arktischen Forschungslabors in Point Barrow, teilweise für uns. Er ist der Mann, der uns all die Informationen über den sowjetischen U-Boot-Jäger, diesen Hubschrauber, besorgt hat, als er zum erstenmal in der Arktis auftauchte.« Dawes erinnerte sich ungern an diesen Hubschrauber. »Er gehört zur Geheimstufe eins und spricht fließend Russisch. Falls das nicht reicht, ist da noch dieser Spitzbergen-Trip.«
»Was war das, Sir?«
»Unsere Sicherheitsvorkehrungen müssen besser sein, als ich dachte«, bemerkte Dawes mit einem kalten Lächeln. »Aber Sie waren ja damals in Saigon. Letztes Jahr machten sich drei Männer auf den Weg über das Packeis, um etwas zu beweisen, was wir für unmöglich hielten: Sie legten den ganzen Weg von Grönland bis Spitzbergen per Schlitten zurück. Es kam nicht in die Presse, weil dieser Trip von militärischer Bedeutung war. Die drei Männer waren Sam Grayson und Horst Langer, die jetzt in Thule warten, und Beaumont – ihr Anführer.«
»Das klingt alles äußerst vielversprechend«, gab Adams zu. »Aber wir brauchen ihn nur für den Fall, daß Target 5 eingenebelt ist?«
»Richtig! Die Schwierigkeit ist, daß Beaumont nur dann direkt nach Grönland zurückgehen wird, wenn ich ihm sage, daß er Michael Gorow herausholen soll…«
»Aber das wissen Sie ja nicht«, warf Adams ein. »Der neueste meteorologische Bericht meldet klares Wetter über dem ganzen Gebiet…«
»Dann werde ich ihm eben meinen neuesten Wetterbericht zeigen.« Dawes ging zu seinem Schreibtisch und zog ein maschinengeschriebenes Blatt hervor, das er Adams reichte. »Er hat gerade zwei schlimme Jahre in der Arktis verbracht. Deshalb werden wir mit Engelszungen reden müssen, um ihn zur Rückkehr zu bewegen. Diese kleine Fälschung muß dazu beitragen.«
Adams starrte auf das Blatt Papier. Es war ein offizieller meteorologischer Bericht mit Datum und Uhrzeit von vor acht Stunden. – Wetterbedingungen Umgebung Target 5 verschlechtern sich rapide. Dichter Nebel. Sicht null. Temperatur minus neunundvierzig Grad. Bedingungen verschlechtern sich voraussichtlich. – Adams blickte von dem Bericht auf. »Was passiert, wenn er dahinterkommt, daß Sie ihn angeschmiert haben?«
»Er wird in die Luft gehen; aber bis dahin ist er hoffentlich in Thule auf Grönland.« Dawes nahm eine kurze, dicke Zigarre aus einer Kiste und steckte sie in den Mund, ohne sie anzuzünden. Seit dreißig Tagen versuchte er, sich das Rauchen abzugewöhnen, und bis jetzt hatte er es vierzehn Tage lang ausgehalten. »Sie haben von der undichten Stelle in unserem Sicherheitssystem in Thule gehört?« fragte er beiläufig.
»Nein.« Adams richtete sich in seinem Stuhl auf. »Welche undichte Stelle?«
»Callard vom FBI hat mir vor zwei Stunden eine Warnung zukommen lassen.« Dawes blies das Streichholz aus, das er geistesabwesend angezündet hatte. Er blickte ernst drein. »Es hat den Anschein, daß ein Top-Sowjetagent seit mehr als zwei Jahren fortlaufend Informationen gesendet hat. Man kennt seinen Decknamen – Krokodil –, und man hofft, sehr bald seine Identität zu lüften.«
»Das könnte die Operation gefährden«, sagte Adams.
»Ich glaube nicht. Ich werde Beaumont empfehlen, nur mit Tillotson, dem Sicherheitschef dort, zu verhandeln.« Dawes blickte auf seine Uhr. »Beaumont dürfte bald hier sein. Halten Sie sich fest, Adams.«
Der Mond stand hoch, die Nacht war sternklar, und über dem Packeis funkelte der Himmel im Licht der Konstellationen um den Großen Bären. Die bittere Kälte der langen Nacht lag wie ein Belagerungsring um Target 5.
Hundertfünfundachtzig Kilometer östlich der Küste Grönlands und nur vierzig Kilometer westlich der sowjetischen Eisinsel Nordpol 17 wurde Target 5 von dem Packeis bedrängt, das an ihm rieb und sich gegen seine klippenähnlichen Ränder preßte. Es waren Milliarden Tonnen Eis, die ständig in Bewegung waren und quietschten und knirschten, in dem Bestreben, die Insel, die in ihm gefangen war, durch seinen Druck zu zermalmen.
Seit dreißig Jahren, seitdem im Jahre 1942 Target 5 vom kanadischen Schelfeis losgebrochen war und seinen spektakulären Umlauf rund um den Nordpol angetreten hatte, versuchte das Packeis die Insel zu zermalmen. Aber bisher hatte es den sieben Meter hohen Eisklippen, die sich über ihm erhoben, nichts anhaben können, da es aus Salzwassereis bestand – einem Eis, das sich aus der See geformt hatte. Die massive Insel, anderthalb Kilometer im Durchmesser, war zäher.
Target 5 bestand aus Frischwassereis, das härter ist als sein Gegner, der sich aus Salzwasser zusammensetzte. Sie hatte einen langen Stammbaum. Über Hunderte von Jahren hatte sich das Schelfeis entlang der kanadischen Küste aufgebaut aus dem langsam abfließenden Gletscherwasser, das sich zur gefrorenen See hinbewegte. Das Schelfeis hatte sich Lage um Lage aufeinandergeschichtet und eine Stärke von siebzig Metern erreicht. Target 5 war ein Fragment dieses Schelfs, ein anderthalb Kilometer weites Fragment, das sich losgelöst hatte und seit dreißig Jahren mit dem Packeis driftete.
Die Eisinsel hatte gerade ihren vierten, zehn Jahre dauernden Umlauf um den Pol mit Kurs auf die kanadische Arktisküste begonnen, als die Grönland-Strömung sie erfaßte. Die riesige Eisscheibe wurde südlicher als je zuvor getrieben. Bald war sie in der Nähe des Trichters zwischen Grönland und Spitzbergen, bis sie den Punkt ohne Wiederkehr erreicht hatte, und trieb nun statt westlich weiter südlich in Richtung Eisberg-Gasse.
Weit entfernt in Washington wartete Dawes noch auf Beaumont, als Dr. Matthew Conway, der fünfzigjährige Stationsleiter von Target 5, aus der Hauptbaracke des Quartiers trat, um mit dem Sextanten die Position zu bestimmen. Conway, den normalerweise nichts aus der Ruhe bringen konnte, war etwas nervös, als er mit dem Instrument hantierte. Und die Tatsache, daß fast sofort ein zweiter Mann bei ihm war, als er nun nach draußen trat, irritierte ihn eher noch mehr. Jeff Rickard, der zweiunddreißigjährige Funker, schloß schnell die Tür hinter sich, um die Kälte nicht in die Baracke zu lassen. »Irgendwas los, Matt?« erkundigte er sich.
»Eine ganze Menge«, antwortete Conway mit erzwungener Heiterkeit. »Der Omaha-Expreß ist gerade vorbeigefahren.«
»Mensch, wenn’s nur so wäre! Irgendwelche Zeichen von den Russen, meinte ich.«
»Ich weiß, was du meintest.«
Sie standen zwischen zwölf Baracken, die den Forschungsstützpunkt in der Mitte der Insel bildeten. Auf beiden Seiten einer schmalen Straße aus festgefahrenem Schnee standen sich je sechs Baracken gegenüber. Aus einer Baracke am Ende der Straße ragte ein Funkmast in die Mondnacht. Überall um sie herum, an keiner Stelle weiter als achthundert Meter entfernt, quietschte und knirschte der Feind – das Packeis – wie ein gequältes Ungeheuer. Es erinnerte sie daran, daß das Packeis lebte, sich bewegte und gegen die Klippen scheuerte, die es noch zurückhielten. Plötzlich hörten sie ein neues Geräusch, einen scharfen Knall, wie von einem Gewehrschuß.
»Was zum Teufel war das?« flüsterte Rickard.
»Ein Stück Eis, das abbricht«, antwortete Conway müde. »Geh bitte nach drinnen zu Sondeborg, Jeff. Ich möchte mit meiner Arbeit fertig werden.«
»Er hat wieder eine seiner Launen. Ich glaube, es wird schlimmer mit ihm, Matt.«
Conway hatte sein Gesicht von Rickard abgewandt. Er preßte die Lippen zusammen und versuchte, sich auf seine Positionsbestimmung zu konzentrieren. Sondeborg, mit sechsundzwanzig Jahren der Jüngste von ihnen, war kurz vor einem Nervenzusammenbruch, oder wie auch immer man es nennen wollte. Schuld war natürlich die Isolation. Außerdem stand das Ende ihres Aufenthalts auf der Insel bevor. In zwölf Tagen sollte das Flugzeug kommen, um sie von dieser dem Untergang geweihten Insel zu evakuieren, und jetzt erschienen ihnen die Stunden – selbst die Minuten – wie Jahre.
Der Forschungsstützpunkt war rundherum von einem glatten; schneebedeckten Plateau umgeben, das sich bis zu den Eisklippen hin erstreckte, ausgenommen eine kleine Stelle im Süden, wo sich ein Hügel erhob, dessen Gipfel fünfzehn Meter über dem Plateau lag. Hier, mehr als hundertsechzig Kilometer von der nächsten Küste entfernt, war ein Hügel, aufgeschüttet aus riesigen, schneebedeckten Felsbrocken. Einige hatten die Größe kleiner Bungalows. Vor Jahrtausenden waren sie in einen Gletscher geraten und auf dem kanadischen Schelfeis abgelagert worden. Als die gewaltige Eisplatte abgebrochen war, hatte sie den Hügel mit sich getragen.
Die Tür hinter Conway wurde wieder geöffnet, und er spürte, daß er nahe daran war, seine Selbstbeherrschung zu verlieren. Sondeborg gesellte sich zu ihnen. Ihre Lage war äußerst vertrackt. Niemand war in dieser schrecklichen Einsamkeit gern sich selbst überlassen, nicht einmal in der Wärme einer Baracke. Trotzdem rieben sie sich gegenseitig auf, wenn sie zusammen waren, so wie das Eis, das gegen die nahen Klippen scheuerte. »Mach die Tür zu, Harvey«, sagte Conway, der sein Auge gegen das Instrument preßte. Die Tür schlug hinter ihm zu.
»Die Russen sind fort!« Sondeborg war nervös, fast hysterisch. »Sie haben mehr Verstand als wir. Sie haben ihren verfluchten Stützpunkt geräumt, als noch Zeit dazu war. Warum zum Teufel funken wir nicht nach unserem Flugzeug. Alles ist gepackt…«
»Jetzt reicht’s!« Conway senkte den Sextanten und fuhr herum. »Es ist noch längst nicht alles gepackt – und du hast noch Experimente abzuschließen.«
»Scheiß auf die Experimente!« zischte Sondeborg. »Dieser Ort ist mir unheimlich…«
»Du bist seit elf Monaten auf Target 5«, unterbrach Conway, »und es ist noch immer derselbe Ort.«
»Es ist nicht derselbe Ort«, schnauzte Sondeborg zurück. »Wir befinden uns am Rand der Eisberg-Gasse…«
»Geh nach drinnen und mach uns Kaffee«, fuhr Conway ihn an. »Wir können alle etwas Heißes zu trinken gebrauchen.« Die Tür knallte wieder, als Sondeborg zurück in die Baracke stürmte. »Du gehst besser mit ihm rein, Jeff«, empfahl Conway ihm. »Du weißt ja, was er anstellt, wenn er allein ist. Dann kannst du noch mal versuchen, nach Thule durchzukommen. Ich will, daß man unsere neue Position kennt.«
»Ich werd’s versuchen«, sagte Rickard skeptisch. »Es bilden sich starke atmosphärische Störungen. Ich glaube, wir sind abgeschnitten. Es könnte an einem bevorstehenden Wetterumschwung liegen.«
Conway runzelte die Stirn, als er seine Positionsbestimmung abgeschlossen hatte. Der Hinweis auf schlechte Funkverbindung beziehungsweise gär keine Funkverbindung machte ihm mehr Sorge, als er zeigen wollte. Bevor er wieder hineinging, blieb er kurz stehen und überflog die vertraute Wildnis aus gefrorener See und endlosem Eis. Aus irgendeinem Grund hatte Conway Angst.
In Dawes’ Büro herrschte eine subtropische Hitze und eine Spannung, die die drei Männer ins Schwitzen brachte. Beaumont hatte diese Spannung ausgelöst. Er saß da in kurzärmeligem Hemd, die Hände über seine starken Knie verschränkt, und starrte Dawes an. »Also gut, ich bin jetzt im Bilde, nun, was macht diesen Russen, Michael Gorow, so verdammt wichtig?«
»Alles, was Sie wissen müssen, ist, daß er sehr wichtig ist«, warf Adams dazwischen. »Die Einzelheiten sind top secret.«
Beaumont wandte kurz seinen Kopf und warf dem Assistenten einen mißbilligenden, düsteren Blick zu. Dann wandte er sich wieder an Dawes, der eilig antwortete. »Michael Gorow ist der Meeresforscher Nummer eins der Sowjetunion. Er hat persönlich die Verlegung ihres gesamten Sosus- und Caesar-Systems* entlang dem arktischen Meeresboden überwacht. Und er bringt die Katharina-Karten mit – den vollständigen Plan dieses Systems, das ihre U-Boote unter dem arktischen Eis herleitet und sie bis an unsere Küsten führt. Sagt Ihnen das genug?«
»Es bedeutet, daß Gorow – wichtig ist.«
»Wenn wir diese Karten in unseren Händen haben, könnten wir uns daranmachen, ihr ganzes Offensivsystem auseinanderzureißen. Es könnte sie zehn Jahre zurückwerfen«, fuhr Dawes temperamentvoll fort. »Und es bedeutet noch mehr als das: Wenn der Präsident im Mai mit den Katharinen-Karten in seiner Tasche nach Moskau geht, könnte er aus einer sehr starken Position heraus verhandeln. So wichtig ist das, Keith. Und deswegen brauche ich Sie in Grönland.«
»Immer mit der Ruhe. Noch habe ich nicht die Absicht, überhaupt irgendwohin zu fahren.« Beaumont erhob sich und ging quer durch den Raum, um sich die Wandkarte anzusehen. Für einen Mann von seiner Größe ging er sehr gemessen. »Dieses Schiff, die Elroy…« Er zeigte auf eine Markierungsnadel unten auf der Karte. »Ist das der Eisbrecher, das Schwesterschiff der Exodus?«
»Ja. Nach einem Jahr in der Arktis ist sie auf dem Weg zurück nach Milwaukee.«
»Und wenn ich verlangen würde, daß Sie sie umkehren lassen und sie schnurstracks zu dem Eisfeld zurückschickten…?«
Adams’ Stimme überschlug sich vor Entrüstung. »Sie scheinen vergessen zu haben, daß wir diese Operation planen, Beaumont.« Der Engländer wandte sich ihm langsam zu und fixierte ihn. Adams wurde unbehaglich zumute, und Beaumont ließ sich Zeit mit der Antwort: »Vielleicht hätten Sie Lust, mit mir zu kommen – über das ungemütliche Eis?« Er wandte sich wieder Dawes zu. »Ein ganz schöner Schlamassel – und diese undichte Stelle in unserem Sicherheitssystem da oben in Thule gefällt mir überhaupt nicht. Dorthin muß ich zuerst, um Grayson und Langer abzuholen und mir die Ausrüstung zu besorgen, bevor wir nach Curtis Field weiterfliegen.« Mit einem Finger stieß er auf die Landebahn, die Target 5 am nächsten lag. »Deshalb ist diese undichte Stelle gefährlich.«
»Callard vom FBI meint, sie könnten ›Krokodil‹ innerhalb weniger Stunden ausfindig machen. Irgendwelche notwendigen Instruktionen können wir vorab direkt an Tillotson funken. Er ist der Sicherheitschef dort oben.«
»Mir gefällt die Geschichte immer noch nicht. Zeigen Sie mir doch noch mal den Wetterbericht.« Dawes reichte ihm mit unbewegter Miene den gefälschten Wetterbericht; Adams konzentrierte sich auf seine Fingernägel. Beaumont las den Bericht und schüttelte den Kopf. »Das bedeutet, daß wir drei von Curtis Field aus bis an den Rand der Nebelbank fliegen müssen. Von da aus geht’s weiter mit dem Schlitten nach Target 5 – für den Fall, daß wir es jemals finden. Wir holen Gorow ab – vorausgesetzt, daß er überhaupt die vierzig Kilometer über das unsichere Eis schafft –, dann müssen wir mit den Schlitten den ganzen Weg zurück, hundertfünfundachtzig Kilometer auf brüchigem Eis, wahrscheinlich mit den Sicherheits-Iwans auf den Fersen…«
»Wir könnten Sie vom Eis aufnehmen, sobald Sie aus dem Nebel sind, und Sie zurückfliegen«, schlug Adams vor.
»Könnten Sie«, stimmte Beaumont zu, »falls Sie uns finden, was ich bezweifle. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie das ist, wenn man versucht, vier Männer und zwei Schlittengespanne um diese Jahreszeit aus der Luft ausfindig zu machen? Offensichtlich doch nicht…«
»Es werden aber Leute aus der Luft gerettet«, beharrte Adams.
»Das stimmt«, brummte Beaumont, »werden sie. Aber etwas wissen Sie offensichtlich nicht, daß dies nämlich meist per Zufall geschieht – ein Flugzeug, das überhaupt nicht nach ihnen sucht, findet sie zufällig. Und da ist noch etwas, das mir nicht gefällt«, fuhr er fort, »wir wissen immer noch nicht, wann er kommt.« Er ließ den Wetterbericht in Dawes’ Richtung flattern. »Senden Sie eine dringende Nachricht an die Elroy – sie soll sofort umkehren und direkten Kurs Nord zum Eisfeld steuern. Das könnte ein Treffpunkt sein…« Beaumont nahm einen Bleistift und zeichnete ein dickes Kreuz auf die Wandkarte ein.
»Das ist ja mitten im Eis«, protestierte Adams.
»Dann soll sie sich eben ihren Weg durchs Eis rammen. In zwei Stunden will ich in einem Flugzeug nach Grönland sitzen«, sagte er zu Dawes, »in einer schnellen Maschine, die mich nonstop hinbringen kann.«
»Eine Boeing steht in diesem Augenblick für Sie bereit«, sagte Dawes.
Beaumont zog die Augenbrauen hoch. »Sie waren sich Ihrer Sache ziemlich sicher, nicht wahr? Amerikanische Organisation – manchmal jagt sie mir Furcht ein. Zu klären wäre also nur noch diese heikle Angelegenheit, wann wir wissen werden, ob Michael Gorow kommt.«
Adams redete jetzt schnell und sachlich. »Wir erwarten die Rückkehr eines Mannes von Leningrad nach Helsinki. Er nimmt Verbindung mit einem Verwandten Michael Gorows auf, und er wird uns den Zeitpunkt angeben, wann Michael Gorow Nordpol 17 verläßt. Wir wissen mit Sicherheit, daß dies in den nächsten Tagen sein wird. Den genauen Tag werden wir dann wissen, wenn unser Mann herauskommt.«
»Angenommen, er kommt nicht lebend aus Leningrad raus?« warf Beaumont ein.
»Es müßte ihm eigentlich gelingen«, sagte Adams zuversichtlich. »Er war bisher noch nie hinter dem Eisernen Vorhang, und deshalb wurde er ausgewählt. Aber er ist ein sehr erfahrener Mann. Sobald er Helsinki erreicht, geht er direkt in unsere Botschaft, die uns umgehend informieren wird.«
»Die ganze Sache hängt von einem einzigen Mann in Rußland ab«, sagte Beaumont grimmig.
»Ein erstklassiger Mann«, versicherte Adams. »Wir werden es spätestens um ein Uhr Sonntag früh unserer Zeit wissen. Sobald wir es wissen, werden wir es Ihnen nach Curtis Field weitergeben.« Adams in seinem Optimismus schien in anderen Sphären zu schweben. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie werden sehen – es wird alles klappen wie am Schnürchen.«
»Wird es nicht«, knurrte Beaumont. »Ich kann Ihnen nur das eine mit Sicherheit voraussagen: Es wird nicht klappen wie am Schnürchen.«
Freitag, 18. Februar
Am Freitag, dem 18. Februar, genau fünf Minuten nach fünfzehn Uhr, wurde auf dem Newski-Prospekt in Leningrad ein Mann getötet.
Nachmittags um drei Uhr Leningrader Zeit ist es in Washington erst sieben Uhr morgens. Beaumont hatte noch nicht einmal den Florida-Expreß bestiegen, aus dem er siebzehn Stunden später ohne viel Federlesens herausgeholt werden sollte. Es war also fast drei Uhr nachmittags, als Harvey Winthrop, ein amerikanischer Tourist, vorsichtig die fünf vereisten Stufen hinunterstieg, die vom Hotel Europa aufs Straßenniveau hinabführten.
Winthrop, ein großer, ernst aussehender Mann von achtunddreißig Jahren, war laut Paß Schriftsteller: ans Schreiben dürfte er aber wohl kaum gedacht haben, als er auf seine Uhr schaute und das Hotel Europa um 2.55 Uhr verließ. Auf der Straße wandte er sich nach links und stapfte durch den Schnee in Richtung Newski-Prospekt.
Der Himmel war wolkenverhangen und verhieß mehr Schnee. Es waren wenige Leute unterwegs, denn auf diesem nördlichen Breitengrad würde es innerhalb von dreißig Minuten dunkel sein. Die Straßenlaternen brannten sogar schon. Ihr Licht spiegelte sich gespenstisch im Schnee, als Winthrop den Newski-Prospekt erreichte und vorsichtig in beide Richtungen der breiten Allee spähte. Er erweckte den Eindruck, als sei er unschlüssig, ob er die Straße überqueren sollte; aber in Wirklichkeit beobachtete er drei parkende Wagen auf der anderen Seite der Allee.
Die Reisebegleiterin von Intourist, Madame Vollin, die ihn bei jedem Besuch der Eremitage begleitet hatte, seit er vor fünf Tagen aus Helsinki angekommen war, konnte er nirgends entdecken, weder in einem der geparkten Wagen noch vor den schwacherleuchteten Schaufenstern hinter den Fahrzeugen. Sie hatte also seiner Versicherung geglaubt, daß er heute nicht mehr zur Eremitage zurückgehen würde, da er zu müde sei, sich weitere Rubens anzuschauen. Er zögerte und wartete einen herannahenden Trolley-Bus ab. So hatte er wieder einen Vorwand, die Lage noch einmal gründlich zu sondieren.
Auf der gegenüberliegenden Seite der fast menschenleeren Allee eilte ein Jugendlicher in einer schwarzen Lederjacke um die Ecke, steckte seinen Schlüssel in eine Wagentür, öffnete sie und wartete auf ein junges Mädchen, das nach ihm um die Ecke bog.
Das rothaarige Mädchen trug einen enganliegenden Minimantel. Als es den jungen Mann eingeholt hatte, fing es an, auf ihn einzuboxen. Winthrop lächelte trocken, während der Trolley-Bus vorbeirollte, blaue Funken von der eisbehangenen Oberleitung sprühend: Auch die Russen hatten ihre Probleme mit Jugendlichen, besonders wenn es sich um Sprößlinge der oberen Parteifunktionäre handelte. Dann endlich überquerte er die Straße.
Es war kein Zufall, daß man Winthrop durchaus für einen Russen halten konnte. Er trug einen Pelzmantel, Pelzmütze und kniehohe Stiefel, die er drei Tage nach seiner Ankunft im Kaufhaus GUM erstanden hatte. »Ich hatte keine Ahnung, daß es so kalt sein würde«, hatte er Madame Vollin gegenüber erklärt. Als er die andere Straßenseite erreichte und an dem noch immer streitenden jungen Paar vorbeiging, schaute er auf die Uhr.
Zwei Uhr achtundfünfzig. Noch zwei Minuten bis zu dem Treffpunkt, den er bereits sehen konnte: den kleinen baumbestandenen Park weiter unten auf dem Newski-Prospekt. Er stapfte die Allee entlang, seine behandschuhten Hände tief in die Manteltaschen vergraben und einen Kunstkatalog unter den Arm geklemmt. Er ging dieselbe Strecke zur Eremitage im Winterpalais, die er fünf Tage lang zusammen mit Madame Vollin gegangen war. Er näherte sich dem kleinen Park und konnte schon die Lenin-Statue neben dem Weg sehen und weiter entfernt eine kurze, gedrungene Gestalt, die vom Newski-Prospekt abgebogen und schon innerhalb des Parkes angelangt war.
Ob das der Seemann war? Winthrop betrat den Park.
Winthrop war Peter Gorow, dem Bruder des Meeresforschers Michael Gorow, noch nie begegnet. Er strengte seine Augen an, um die drei Erkennungszeichen zu überprüfen, bevor der Mann ihn erreichte. Den Seesack trug er unter dem Arm anstatt über der Schulter, wie es die sowjetischen Seeleute normalerweise taten. Stimmte. Ein roter Schal war um den Hals geschlungen. Stimmte. Aber es gab ein weiteres Merkmal, und das Licht wurde immer diffuser. Winthrop behielt seinen langsamen, lässigen Schritt bei. Das dritte Detail war ein Knopf, ein einzelner weißer Knopf oben am Mantel, während die anderen Knöpfe dunkel sein sollten. Verdammt, dies Kennzeichen konnte er überhaupt nicht ausmachen. Ein Milizsoldat – ein Polizist – kam von der gegenüberliegenden Seite her in den Park und folgte den Fußstapfen des Seemanns.
Winthrop blieb das Herz stehen, aber er behielt das Tempo bei. Er war eingetroffen – der unvorhergesehene Faktor, der alles ruinieren und den Kontakt unmöglich machen konnte. Ein weiterer beängstigender Zustand spannte Winthrops Nerven – folgte der Polizist Gorow? Das war unwahrscheinlich, es wäre zu auffällig gewesen. Reiß dich zusammen, Mann! Helsinki, Finnland – Sicherheit – liegt nur hundertfünfzig Kilometer entfernt. Aber dieser Gedanke beruhigte Harvey Winthrop keineswegs, als er dem Seemann immer näher kam: Er könnte genausogut in Kiew sein, im Herzen der Ukraine, von wo Gorow gerade – nach dem Treffen mit seinem Bruder Michael – gekommen war.
Es wurde zusehends dunkler. Der Matrose kam näher, der Polizist im dunkelblauen Mantel in gleichbleibendem Abstand von fünfzig Metern hinter ihm. War auch das ein Zufall – daß der Polizist genau dasselbe Tempo beibehielt wie Peter Gorow? Falls es Gorow war – Winthrop konnte immer noch nicht den Knopf entdecken. Er sah zwar das rote Band an der Mütze des Polizisten, aber nicht Gorows verdammten Knopf. Der Seemann, der jünger als dreißig zu sein schien, blickte geradeaus. Winthrop bildete sich ein, zu sehen, wie sich seine Kiefermuskeln verkrampften. Der arme Teufel schien in einer Zerreißprobe zu stecken. Für eine derartige Spannung war er nicht geschult. Dann bemerkte Winthrop plötzlich den helleren Knopf oben am Mantel.
Vor der Lenin-Statue rutschte Winthrop auf dem Eis aus – in einem Augenblick, als der Seemann nur noch ein paar Meter von ihm entfernt und der Polizist immer noch fünfzig Meter hinter ihm war. Als der Amerikaner ausglitt, war der farbige Katalog auf den Boden gefallen. Die Abbildung eines Rubens-Gemäldes hob sich vom Schnee ab wie ein Blutfleck. Der Katalog war sein Erkennungszeichen. Wie selbstverständlich blieb der Seemann stehen, während Winthrop versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, und sagte eilig und leise etwas auf russisch.
»Er kommt am 20. Februar – zu dem amerikanischen Stützpunkt Target Nummer 5 – 20. Februar…« Er wiederholte das Datum noch leiser, und Winthrop spürte, daß zwei Dinge den Seemann furchtbar ängstigten – daß der Amerikaner das lebenswichtige Datum nicht gehört haben könnte, wohl aber der Polizist.
Winthrop war wieder auf den Beinen und klopfte den Schnee von seinem Mantel. Der Matrose zuckte mit den Schultern, als wäre es alltäglich, daß Leute bei diesem Wetter ausgleiten, und setzte seinen Weg durch den Park in Richtung Newski-Prospekt und zu den Docks fort. Winthrop hob den Katalog auf und versuchte zu gehen, hinkte aber stark. Er lehnte sich an das Gitter, das die Statue umgab. Der Polizist erreichte Winthrop und fragte: »Können Sie gehen? Haben Sie weit zu gehen?«
»Schon gut. Ich glaube, ich habe mein Fußgelenk verstaucht, aber es geht schon.« Winthrop hatte vorsichtshalber auf englisch geantwortet – niemand außer Gorow, der schon außerhalb des Parks war, wußte, daß er Russisch sprach. Der Polizist starrte ihn verständnislos an, während Winthrop qualvoll lächelte.
Er hatte sich tatsächlich das Fußgelenk verstaucht.
»Ich wohne im Europa-Hotel«, fuhr er fort, bemüht, den Mann loszuwerden. Er winkte ab. »Es ist nicht weit.« Er lächelte wieder und ging dann denselben Weg, den er gekommen war, wieder zurück.
Winthrop humpelte von Schmerzen gequält durch den Park, jetzt wirklich besorgt, daß er fallen könnte. Er mußte es einfach bis zum Hotel schaffen. Trotz der Schmerzen arbeitete es fieberhaft im Gehirn des Amerikaners. Vielleicht konnte der verstauchte Knöchel ihm als Vorwand dienen, aus Rußland herauszukommen.
Winthrop sollte am übernächsten Tag, einem Sonntag, mit einem frühen Flug nach Helsinki zurückkehren. Aber das war der Tag, an dem Michael Gorow schon nach Target 5 aufbrechen würde. Den sowjetischen Behörden war sein Abreisetermin bekannt, und sie wußten, daß er sich in Leningrad aufhielt, um in seiner Eigenschaft als Kunstkritiker die großartige Sammlung von Rubens-Gemälden in der Eremitage zu besichtigen. Eine vorzeitige Abreise könnte sie argwöhnisch machen. Der tatsächlich verstauchte Knöchel war Grund genug, schon den Samstagflug der Finnair nach Helsinki zu nehmen. Dann konnte die Nachricht an Dawes in Washington weitergegeben werden, einen Tag bevor Gorow von Nordpol 17 flüchten würde.
Als Winthrop auf den Newski-Prospekt humpelte, begann es zu schneien. Automatisch überblickte er die Situation auf der Straße und bemerkte, daß der junge Mann in der Lederjacke sich immer noch mit seinem Mädchen zankte. Sie müssen verliebt sein, sagte er ironisch zu sich selbst. Es war kein Verkehr. Er hatte sich nicht nach dem Polizisten umgesehen, als er auf die Straße trat.
Wahrscheinlich war der frische Schneefall der Grund für das, was jetzt passierte. Dem jungen Mann in der Lederjacke war es wohl zu kalt geworden, und das Schneetreiben hatte dem Streit ein Ende gemacht. Er setzte sich hinter das Steuer seines Wagens, das rothaarige Mädchen kletterte neben ihn auf den Beifahrersitz. Der junge Mann drehte den Zündschlüssel, ließ den Motor aufheulen und jagte los wie eine Rakete. Dann erst fiel ihm ein, das Licht einzuschalten.
Trotzdem hätte Winthrop noch beiseite springen können, hätte er das Humpeln nur vorgetäuscht; aber der Wagen heulte ihm schon entgegen, als die Scheinwerfer aufleuchteten und ihn blendeten. Im Strahl der Scheinwerfer schoß Winthrops humpelnde Gestalt dem Wagen entgegen, bis sie die Windschutzscheibe völlig ausfüllte, dann wurde er von der Kühlerhaube hochgeworfen und einige Meter weitergeschleudert. Mit der Wucht eines Sturzes aus großer Höhe schlug er krachend auf dem Bordstein auf. Er war tot, bevor das Auto um die nächste Ecke brauste. Eine Frau auf dem Bürgersteig schrie auf.
Hundert Meter weiter auf dem Newski-Prospekt war Gorow stehengeblieben, um die Allee zu überqueren. Er sah Winthrop über die Straße humpeln, sah, wie der Wagen ihn traf und wie sein Körper durch die Luft wirbelte, bevor er aufschlug; und er wußte, daß der Amerikaner tot war. Er überquerte die Allee und setzte seinen Weg zu den Docks fort, wo der Trawler Girolog in drei Stunden auslaufen sollte.
Gorow ging wie in Trance, konnte kaum fassen, was gerade geschehen war. Es war die totale Katastrophe: Die Nachricht würde Washington nie erreichen, und nun gab es keine Möglichkeit, seinen Bruder zu warnen. Michael würde den Weg über das Eis antreten, und die Amerikaner würden nicht einmal wissen, daß er kam. Niedergeschmettert ging Gorow durch den Schnee weiter; seine Füße nahmen wie im Traum die vertraute Strecke. Mein Gott, was konnte er tun?
Samstag, 19. Februar
Im Leningrader Hauptquartier des Staatssicherheitsdienstes war es gerade Samstagmorgen acht Uhr.
»Dieser Amerikaner, der Winthrop, der gestern auf dem Newski umgekommen ist – ich habe so ein komisches Gefühl, daß etwas dahintersteckt…«
Die Lokomotive – das war der Spitzname des Oberst Igor Papanin in Leningrad – war der Chef der Sicherheitsbehörde für besondere Aufgaben für den arktischen Militärbereich. Die Definition von Lokomotive laut Lexikon – sich von der Stelle bewegende Kraftmaschine – traf als Beschreibung Oberst Papanins den Nagel auf den Kopf. Viele stellen sich bei dem Wort eine riesige Maschine vor, die mit großer Geschwindigkeit Hunderte von Leuten mit sich reißt – auch das traf auf den Sibirier zu.
»Ich will einen ausführlichen Bericht, Kramer! Schaffen Sie mir dieses verfluchte Kindermädchen vom Intourist her, Vollin, oder wie sie heißt! Und den Polizisten, der es beobachtet hat. Treiben Sie irgendwelche weiteren Zeugen auf, und führen Sie sie mir bis zwölf Uhr vor. Ich werde sie selbst vernehmen.«
Strenggenommen hätte das Hauptquartier der Sicherheitsbehörde für die Arktis in der Hafenstadt Murmansk sein müssen, aber als Leonid Breschnew, der Erste Sekretär der KPdSU, Papanin auf diesen Posten berief, hatte er das Hauptquartier nach Leningrad verlegen lassen. Auch dies war ein Zeichen von Macht.
Wie Hamburg in Deutschland und Quebec in Kanada, nahm Leningrad in Rußland die Stelle eines Außenseiters ein. Es war die Stadt Leningrad, in der der Kommunismus geboren wurde, als der Kreuzer Aurora mit Kanonendonner die Revolution verkündete. Da Stalin die Selbständigkeit der Stadt fürchtete, hatte er den Unterdrücker nach Leningrad geschickt, auf den er sich am meisten verlassen konnte: Kirow – und Kirow starb durch die Kugel eines Attentäters. Also schickte Breschnew Papanin nach Leningrad.
»Und nehmen Sie Verbindung mit dem Flughafen auf, wo Winthrop angekommen ist. Man wird die Ankunft dieses Mannes registriert haben. Ich will wissen, ob er allein gekommen ist. Bis zwölf Uhr!«
Die ›blutrünstigen‹ Bürger Leningrads versuchten nicht, Papanin wie Kirow zu erschießen. Sie gaben ihm nur den Spitznamen ›die Lokomotive‹. Wenn er, eine bekannte Figur, über den Newski-Prospekt schritt, erkannte jeder Russe ihn sofort, auch im dichtesten Gedränge. Papanin überragte die Menschen wie ein Turm. Er war ein Meter neunzig groß, breitschultrig und schwer gebaut; sein grober sibirischer Schädel war fast kahlgeschoren, und sein Mund war breit wie ein Karpfenmaul. Wenn er gelegentlich wie ein Feldwebel dröhnte, so konnte man – behaupteten die Leute – ihn bis Murmansk hören.
»Gehen Sie zum Polizeirevier und bringen Sie mir Winthrops Sachen, Kramer. Gehen Sie selbst! Ein amerikanischer Tourist im Februar in Leningrad? Ich sag’ Ihnen, Kramer, da ist was faul…«
Walther Kramer, ein fünfundvierzig Jahre alter, kurzer, stämmiger Balte aus Litauen, der sich mit der Geschmeidigkeit und Geräuschlosigkeit einer Katze bewegte, glaubte ihm kein Wort. Als Papanins Assistent konnte er sich im Gespräch mit seinem Chef ein Minimum an Freiheit herausnehmen. Vorsichtig meldete er seine Zweifel an.
»Gibt es wirklich einen Grund zu der Annahme, daß der Amerikaner mehr ist als das, was in seinem Paß steht…?«
»Sind Sie noch nicht fort?«
Nachdem der Balte das Zimmer verlassen hatte, stand Papanin auf und ging zum Fenster hinüber. Dann zog er sein Reise-Schachspiel aus der Westentasche und betrachtete es. Während er sich über das winzige Schachbrett beugte, hob sich sein glattes, knochiges Gesicht von dem bereiften Fenster ab. Um acht Uhr morgens war es draußen noch dunkel. Eiliges Tappen auf dem Kopfsteinpflaster drang zu ihm hinauf; Menschen auf dem Weg zur Arbeit. In der Ecke hinter ihm stand ein uralter, grüner Kachelofen, den er eben erst angemacht hatte. Die Wärme hatte sich noch nicht im ganzen Raum verbreitet. Im Zimmer nebenan rasselte pausenlos der Fernschreiber modernster amerikanischer Bauart, aber Papanin wärmte sich an einem Ofen, der so alt war wie die Revolution selbst.
Es war die Judenfrage, die Papanins Argwohn gegenüber Winthrop geweckt hatte. Die Judenfrage war ein weiterer Grund, weshalb Leonid Breschnew froh war, daß er Papanin nach Leningrad geschickt hatte. Neben all seinen anderen Aufgaben hatte Papanin außerdem herauszufinden, wie Geld ins Land geschmuggelt wurde, um Juden zur Emigration nach Israel zu verhelfen.
Er betrachtete das Schachbrett und begleitete seine Gedanken mit einem Brummen. Winthrop hätte ein Kurier sein können, ein Verbindungsmann zum jüdischen Untergrund. Er würde Winthrop – obwohl er bereits tot war – auf Herz und Nieren prüfen. Wortwörtlich auf Herz und Nieren. Deshalb hatte der Sibirier eine Obduktion der Leiche angeordnet. Er runzelte die Stirn, entschied sich für einen Zug und zog einen Bauern vor.
Er war sicher, daß er recht hatte: Irgend etwas an diesem Mr. Harvey J. Winthrop war in der Tat sehr ungewöhnlich. Um acht Uhr am Samstagmorgen hatte Papanin noch keine Ahnung, daß er das Geheimnis um Winthrop lüften mußte, bevor Michael Gorow am Sonntag um Mitternacht von Nordpol 17 flüchten würde.
In Washington war es erst Freitag, Mitternacht. Beaumont lag noch im Schlafwagen des Florida-Expreß. Auf dem sowjetischen Stützpunkt Nordpol 17 war es erst vier Uhr morgens, und Michael Gorow war erst kürzlich aus Murmansk eingetroffen.
Michael Gorow, vierzig Jahre alt, Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften und der hervorragendste Meeresforscher der Sowjetunion, war fast krank vor dem Streß, vom Warten, vom Zählen der Stunden bis Sonntag.
Um vier Uhr morgens stand er im Mondlicht am Rande der frisch geräumten Landebahn, die die Eisinsel Nordpol 17 in zwei Hälften teilte. Absichtlich schaute er nach Osten statt nach Westen, wo vierzig Kilometer entfernt der amerikanische Stützpunkt Target 5 lag. Jenseits der Insel glitzerte im Mondlicht das aufgewühlte Packeis wie ein wüster, endloser Berg aus zerschmettertem Milchglas. Hinter ihm lagen die Hütten, die den Stützpunkt bildeten. Die flachen Dächer waren hoch mit Schnee bedeckt. Aus dieser Richtung hörte er jetzt Schritte. Es war Nikolai Marow, der Sicherheitsbeamte. Marow trat nah heran und betrachtete den gebeugten Rücken des Meeresforschers. »Fühlen Sie sich nicht wohl, Akademiker Gorow?« erkundigte er sich.
»Selten so wohl gefühlt.«
»Sie sind so früh auf«, beharrte der Sicherheitsbeamte.
»Ich bin immer früh auf –, das sollten Sie inzwischen wissen.«
Gorow ließ absichtlich seine Gereiztheit durchblicken, und seine Taktik hatte den gewünschten Erfolg. Marow murmelte etwas und trottete zu den Baracken zurück. Gorow ballte die Fäuste in seinen Manteltaschen: Marow würde wahrscheinlich ein Problem für ihn bedeuten, denn immer, wenn er sich aufs Packeis wagte, schloß Marow sich ihm an. Da war noch ein Grund, weshalb Gorow sich erlaubte, seine Gereiztheit zu zeigen: Er war soweit, daß er den Anblick eines Sicherheitsbeamten nicht mehr ertragen konnte. Oberst Papanins Sicherheitsdienst war verantwortlich für den Tod von Rachel Lewitzer vor sechs Monaten.
Bei der Erinnerung an sie füllten sich Gorows Augen mit Tränen. Sie waren inoffiziell verlobt. Da sie Jüdin war und er ein bedeutender Akademiker, hatten sie ihre Verbindung geheimgehalten. Dann, im August 1971, hatte ihn die Nachricht erreicht, daß Rachel in Leningrad gestorben war.
Der Sicherheitsdienst wollte sie in ihrer Wohnung verhaften: stand im Zusammenhang mit der jüdischen Untergrundorganisation – Gorow hatte nie Einzelheiten erfahren –, aber Rachel hatte versucht zu fliehen. Dabei hatte ein Sicherheitsbeamter ihr ein Bein gestellt, und sie war eine Treppe mit dreißig Steinstufen hinuntergestürzt. Sie war sofort tot. Genickbruch.
Gorow sah auf seine Uhr. Vier Uhr zehn ihrer Zeit. Noch zwanzig Stunden, bis er sich in einem verzweifelten Versuch, Target 5 zu erreichen, über das Packeis absetzen würde. Der Zeitplan war lebenswichtig. Die Amerikaner hatten ihn wissen lassen, daß er den Zeitpunkt seiner Flucht selbst bestimmen und unbedingt daran festhalten mußte.
Gorows Plan war, Nordpol 17 genau um Mitternacht zu verlassen. Er fragte sich, wie er, unter dem Vorwand, mit seinen Tiefenmessungs-Experimenten beschäftigt zu sein, die nächsten zwanzig Stunden überstehen würde. Aber es gab wenigstens einen Trost: Sein Bruder Peter würde zu diesem Zeitpunkt die Nachricht schon weitergegeben haben. Die Amerikaner wußten schon, wann er kommen würde.
›Die Lokomotive ‹ lief bereits auf Volldampf. Schon um elf Uhr am Samstagmorgen waren im Hauptquartier des Sicherheitsdienstes alle Zeugen verhört worden – von Papanin höchstpersönlich. Er hatte die Intourist-Reiseleiterin, Madame Vollin, gesprochen – »… ein widerliches Weib. Außerdem hatte sie einen ekelhaften Mundgeruch. Ich weiß nicht, wie Winthrop das ausgehalten hat…«
Sehr viel länger hatte er sich mit dem Polizisten beschäftigt, der den Unfall beobachtet hatte. Er hatte das Personal des Hotels Europa befragt und den Beamten am Flughafen, der Winthrops Ankunft aus Helsinki vor fünf Tagen registriert hatte. Nichts hatte er erfahren, was auch nur im geringsten verdächtig schien.
»Ich habe das Gefühl, wir jagen Gespenstern nach«, bemerkte Kramer, als der Flughafenbeamte verhört war. »Es gibt kein einziges Indiz, das diesen Winthrop mit den Juden in Verbindung brächte.«
»Irgend jemand steckt ihnen Geld zu – das wissen wir. Und irgend etwas an Winthrop ist immer noch faul.« Mit einem Satz sprang der Sibirier hinter seinem Schreibtisch auf und begann im Zimmer hin und her zu marschieren. »Fünf Tage lang ist er schön brav – besucht die Eremitage und guckt sich die Rubens an, immer mit seinem Kindermädchen, diesem Weib Vollin. Und was passiert gestern?« Papanin bückte sich, hob das Stocheisen auf und fing an, das Innere des Ofens zu attackieren, indem er die glühenden Kohlen auf dieselbe Art aufrüttelte, wie er Menschen aufzurütteln pflegte.
»Er stirbt bei einem Verkehrsunfall…«
»Vorher! Er gibt seine Gewohnheiten auf, Kramer – er erzählt der Reiseleiterin, er sei müde und gehe nicht mehr aus.« Er bohrte das Stocheisen tief in den Ofen. »Sobald sie ihm den Rücken zudreht, schlüpft er auf eigene Faust wieder hinaus – obwohl es ^fast schon dunkel ist. Warum, Kramer, warum wohl?«
»Er fühlt sich besser. Er geht zurück zur Eremitage.«
»Obwohl das Museum schon um vier schließt? Er wäre gerade noch rechtzeitig zur Schließung des Musems gekommen! Warum ist er auf eigene Faust ausgegangen?«
»Um jemanden zu treffen…«, Kramer antwortete ganz beiläufig, nur um etwas zu sagen. Der Sibirier griff das Stocheisen fester. Er zog die Waffe aus dem Ofen, richtete sich langsam auf und starrte seinen Assistenten an. »Ich glaube es eigentlich nicht«, sagte Kramer hastig.
»Um jemanden zu treffen?« wiederholte Papanin. »Wissen Sie, Sie könnten recht haben! Aber wen? Er hat niemanden getroffen, bevor er Gelegenheit dazu hatte, wurde er getötet.«
Papanin fuchtelte mit dem Stocheisen in Kramers Richtung. »Benutzen wir doch einmal unseren Kopf – ich meine meinen Kopf. Der Amerikaner geht aus, spaziert zu dem Park…«
»Verstaucht sich einen Knöchel…«
»Scheint sich seinen Knöchel zu verstauchen, Kramer.« Mit geschlossenen Augen versuchte Papanin sich die Szene vorzustellen, die der Polizist ihm geschildert hatte. »Vor dem Seemann rutscht er aus, dann kehrt er um. Ich möchte wissen, wer dieser Seemann war, Kramer.«
»Das kann einer von Hunderten gewesen sein.«
»Nein – das können wir abgrenzen. Der Matrose trug seinen Seesack und schlug die Richtung zu den Docks ein…« Papanin legte das Stocheisen zurück auf den Ofen und zog eine Akte aus einer Schublade. Jeden Tag erhielt er eine Aufzeichnung der Vorgänge in der Stadt, die auch den Polizeibericht enthielt, aber er suchte nach dem Hafenbericht. »Das einzige Schiff, das gestern ablegte, war die Girolog, ein Trawler, und der Eisbrecher, der sie herausgeleitet hat. Er muß an Bord der Girolog gegangen sein.«
»Mit einer dreißigköpfigen Crew…«
»Das stimmt. Deshalb will ich jetzt, daß Sie sofort zum Hafen fahren und mir die komplette Liste der Mannschaft besorgen, die gestern nacht mit der Girolog ausgelaufen ist. Bis zwölf Uhr.«
»Dazu reicht die Zeit nicht«, protestierte Kramer.
»Das ist Ihr Problem!« Papanin setzte sich hinter seinen Schreibtisch und wartete, bis Kramer an der Tür stand. »Übrigens, wie ich sehe, haben Sie einen Versetzungsbefehl für Michael Gorow zurück nach Nordpol 17 unterschrieben, als ich diese Woche in Moskau war.«
»Ja, das ist richtig.« Kramer zögerte an der Tür, wegen des plötzlichen Themawechsels ein bißchen unsicher. »Er wollte einige abschließende Tiefenmessungen durchführen, bevor wir den Stützpunkt evakuieren. Er tat so, als wüßten Sie Bescheid.«
»In Ordnung, Kramer. Es fiel mir gerade ein, daß er nicht vorgehabt hatte, dorthin zurückzugehen. Und besorgen Sie mir die Liste von der Girolog bis heute mittag!«
Allein in seinem Zimmer, legte Papanin einen Stiefel auf die Tischplatte und betrachtete verstimmt den grünen Kachelofen, der nun große Hitzewellen ausstrahlte.
Bis Michael Gorow nach Target 5 aufbrach, blieben Papanin genau siebzehn Stunden, um herauszufinden, warum Winthrop nach Leningrad gekommen war.
Der Flug von Washington nach Thule auf Grönland in einer Flughöhe von dreizehntausend Metern dauerte sechs Stunden. Es war Samstagabend elf Uhr, als Beaumont aufwachte und die riesige Landebahn sah, die der Boeing 707 entgegenflog. Es kam ihm nicht wie Samstag vor – nach all den Ereignissen war Beaumont so durcheinander, daß er nachdenken mußte, um den Wochentag rekonstruieren zu können. Und es sah auch nicht aus wie elf Uhr morgens, als die Boeing aus einer mondhellen Nacht in die Wildnis aus Schnee und Eis herabfiel.
»Es kommt mir vor, als hätten wir Washington erst vor fünf Minuten verlassen«, rief er zu Callard hinüber, dem Mann vom FBI, der auf der anderen Seite des Ganges saß.
Der Mann im gepflegten blauen Anzug, frisch rasiert, schaute zu dem großen Engländer hinüber, unsicher, ob er antworten sollte.
»Kommt mir eher wie fünf Jahre vor«, sagte er schließlich. Er wandte sich ab und schaute aus dem Fenster auf seiner Seite.
Beaumont lächelte in sich hinein. Callard war um fünf Uhr morgens in Washington kurz vor dem Start nach Grönland an Bord der Maschine gesprungen; er machte den Eindruck, als hätte er das Flugzeug Kilometer um Kilometer selbst geflogen, während Beaumont geschlafen hatte. Er schaute aus dem Fenster auf die wüste, schneebedeckte Ebene der grönländischen Eisdecke. In der Ferne ragte der dreihundertdreißig Meter hohe Radarmast jäh in den mondhellen Himmel, mit dem rot blitzenden Warnlicht auf der Spitze. Dieser höchste Mast der Welt hatte eine Reichweite von fünftausendsechshundert Kilometern über das Dach der Welt. Er war das Kernstück des Frühwarnsystems.
»Wir sehen uns in Vandenbergs Büro«, rief Gallard plötzlich herüber. »Irgendwann heute abend vielleicht.«
Beaumont nickte; er maß dieser Aufforderung eine große Bedeutung bei. Die Boeing setzte ihren Anflug zur Landung fort. Er war sicher, daß Callard die Nuß geknackt hatte, daß er jetzt wußte, wer hinter dem Decknamen ›Krokodil‹ steckte, und auf dem Weg war, den Sowjetagenten zu verhaften. Sie gingen jetzt auf eine Höhe hinab, die unterhalb der Spitze des Radarmastes lag. Das trostlose Panorama kam näher. Beaumont hatte nun Schrägsicht auf die Flachdächer beiderseits der schneebedeckten Hauptstraße, die sich durch die Mitte der Siedlung zog. Dann setzten sie zur Landung an.
Als Beaumont, in seinen Pelz-Parka gepackt, mit dem man ihn in Washington versorgt hatte, aus dem Flugzeug stieg, wartete Tillotson bereits auf ihn. Es war minus vierzig Grad Celsius, und die unbewegte Luft traf ihn wie ein Fausthieb. Sie verschlug ihm den Atem, als er am Fuße der Treppe stehenblieb. Tillotson, ein großer, hart aussehender Mann mit einem Gesicht wie aus Stein gehauen, schüttelte seine behandschuhte Hand. »Ich habe alles vorbereitet für Ihr Unternehmen…«
Er hielt inne und beobachtete Callard, der hinter Beaumont die Treppe heruntergekommen war und eilig an den zwei Männern vorbei zu Oberst Vandenberg, dem Lagerkommandanten, hinüberging. »Wer ist das?« fragte er.
»Keine Ahnung«, sagte Beaumont, ohne zu zögern. »Er war nicht gerade gesprächig; und ich habe fast die ganze Zeit über geschlafen. Vielleicht hat man sich hier über die Würstchen beschwert.«
Tillotson sah zurück zum Flugzeug, wo gerade der Pilot die Stufen herunterkam. »Entschuldigen Sie«, sagte er, als er dem Piloten in den Weg trat. »Dieser zweite Passagier – wer ist das? Mit diesem Flug war nur Beaumont angekündigt.«
Der Pilot nahm seinen Flughelm unter den Arm und zog sich die Kapuze seines Parkas über den Kopf. »Hier oben scheint es aber auch immer kälter zu werden. Der Mann sprang in Washington in letzter Minute an Bord. Er fuhr mit einem Regierungsfahrzeug vor…«
»Ich werde mich später um ihn kümmern.« Tillotson führte Beaumont zu einem überdachten Jeep und begann zu reden, als er den Motor anließ. »Ja, wie gesagt, es steht alles für Ihr Unternehmen bereit. Zwei Sikorsky-Hubschrauber sind nach Curtis Field an die Ostküste Grönlands geschickt worden. Grayson und Langer warten im Hauptquartier auf Sie – Grayson war hier, aber Langer mußten wir erst auf der Ellesmere-Insel aufgabeln.« Er fuhr den Jeep langsam in einer Spur in Richtung Lager und hielt großen Abstand zu dem Wagen mit Oberst Vandenberg und Callard. »Zwei norwegische Schlitten sind auf dem Weg nach Curtis…«
»Die sind unbrauchbar«, unterbrach Beaumont. »Ich habe ausdrücklich Eskimoschlitten verlangt. Sie sind schwerer und gehen in dem zerklüfteten Eis nicht in die Brüche. Das würde mit ihren ganz sicher passieren.«
Tillotson blickte ihn überrascht an. »Wir selbst benutzen nur den Norwegerschlitten. Wir haben keinen einzigen Eskimo-Schlitten…«
»Ich glaube doch. Als ich das letzte Mal hier war, hatten Sie zwei davon hinten in dem großen Hubschrauberhangar verstaut.«
»Wollen Sie jetzt nachsehen? Ich könnte hier abbiegen und gleich rüberfahren.«
»Jetzt?«
»Warum nicht jetzt? Ich schätze, daß Sie es ziemlich eilig haben.«
An einer Abzweigung der gewalzten Schneepiste änderte Tillotson die Richtung. Er entfernte sich von dem Barackenlager und fuhr auf einen großen, weiter abgelegenen Hangar zu. Etwa einen halben Kilometer vor ihnen glitzerte der dick vereiste Drahtzaun um das Militärgelände im Mondlicht. Hinter dem Drahtzaun stand ein unbenutzter orangefarbener Schneepflug in der Nähe des Hangars. Tillotson zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche und reichte es Beaumont. »Der Wetterbericht für das ganze Gebiet – ich weiß nicht, für welche Gegend Sie sich interessieren. Zerklüftetes Eis, sagten Sie?«
»Genau, zerklüftetes Eis.«
Beaumont hatte sich an die bitterkalte arktische Luft noch nicht gewöhnt, die durch den Jeep strömte, sein Gesicht erstarren ließ und ihm den Atem verschlug. Der Wagen mit Vandenberg und Callard verschwand auf der Hauptspur, seine roten Rücklichter wurden kleiner. Ein anderer Jeep raste in die entgegengesetzte Richtung zu der Boeing 707.
»Irgendwo Nebel gemeldet?« fragte Beaumont beiläufig, während er den Wetterbericht las.
»Nein, nirgendwo Nebel, Gott sei Dank. Nach dem letzten Bericht – und den haben Sie gerade in der Hand – haben wir vollkommen klares Wetter von hier bis Norwegen.«
»Sie meinen, Sie hatten Nebel, und er hat sich erst kürzlich aufgelöst?« drängte Beaumont. Er dachte an den Wetterbericht über die Wetterlage um Target 5, den Dawes ihm in Washington gezeigt hatte. Dichter Nebel… Sichtweite null.
»Wir hatten überhaupt keinen Nebel. Seit drei Wochen nicht.«
Tillotson fuhr langsamer und warf einen Blick auf Beaumont, der immer noch den Bericht las und dabei immer wütender wurde. Dawes hatte ihn mit einem gefälschten Wetterbericht reingelegt, um ihn nach Grönland zu locken. Tillotson hielt an, ließ aber den Motor laufen. »Meine Innenhandschuhe sind verrutscht«, erklärte er. »Ich will das eben in Ordnung bringen.« Er fummelte an dem Handschuh, streifte ihn ab und steckte ihn in seine Manteltasche. Als er seine Hand herauszog, hielt er eine 38er Smith & Wesson. Mit einer kurzen blitzschnellen Bewegung schmetterte er sie gegen Beaumonts Schläfe. Instinktiv warf Beaumont den Bruchteil einer Sekunde, bevor der Revolver ihn traf, den Kopf zur Seite, so daß er nicht mit voller Wucht getroffen wurde, aber er war verletzt. Er schnappte nach dem Zündschlüssel, zog ihn heraus und warf ihn aus dem Seitenfenster in den Schnee. Tillotson schlug ein zweites Mal mit dem Revolver zu. Es war, als ob ein Blitz in Beaumonts Kopf explodierte, ein blendender Blitz – dann umfing ihn dumpf gähnende Schwärze.
Samstag, 19. Februar
Beaumont lag noch benommen im Schnee und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, als er Sam Graysons aufmunterndes Gesicht über sich sah. Aber es lag auch Besorgnis im Blick des Amerikaners, als er die Brandyflasche an Beaumonts Lippen führte. »Mach langsam, Keith…«
Beaumont zwang sich auf seine Ellbogen, griff die Flasche und nahm einen Schluck. In seinem Kopf hämmerte es; er sah alles verschwommen, dann spürte er, wie der hochprozentige Alkohol seine Lebensgeister weckte. Er konnte wieder klar sehen. Mit tiefen langsamen Zügen atmete er die schneidende Nachtluft ein. Sie schien noch besser zu wirken als der Brandy. »Hilf mir auf die Beine«, preßte er durch die Zähne.
»Warte lieber noch ein bißchen…«
Beaumont fluchte, rappelte sich mühsam auf, schwankte und wäre fast wieder hingefallen, wenn nicht Grayson ihn am Arm gepackt hätte. Als er Tillotsons Jeep einige Meter entfernt stehen sah, erinnerte sich Beaumont, daß er den Zündschlüssel in den Schnee geworfen hatte. Bei einem zweiten Jeep, der in der Nähe stand, war die Windschutzscheibe zersprungen und der vordere rechte Reifen platt. »Tillotson hat auf dich geschossen?«
»Tillotson…?«
»Ja, Tillotson«, Beaumont räusperte sich heiser und ungeduldig. »Er ist das ›Krokodil‹ – die undichte Stelle. Aber davon weißt du ja nichts. Wir müssen ihm unbedingt nach – wo ist er hin?« Beaumont schaute zum Flugplatz hinüber, konnte aber außer dem Postenstand an dem Tor im Drahtzaun, dem orangefarbenen Schneepflug weiter entfernt und dem Hangar dahinter nichts sehen.
Wohin zum Teufel war Tillotson verschwunden? »In welche Richtung ist er gegangen?« fragte Beaumont gereizt. Grayson war klein, drahtig, fünfunddreißig Jahre alt und mittelblond. Seinen Schock hatte er immer noch nicht ganz überwunden: er war in dem Glauben gewesen, Beaumont sei tot. »Es gab Gerüchte über eine undichte Stelle im Sicherheitssystem. Ich wollte dich abholen und kam zu spät zum Flugzeug. Der Pilot sagte, du wärst schon weg mit einem Jeep. Ich konnte nicht glauben, daß es Tillotson war, der schoß. Er ist zum Flugplatz rübergelaufen…« Grayson sprach zu sich selbst, denn Beaumont rannte schon zu dem Wachposten hinüber.
»Er kommt nicht weit«, rief Grayson, während er hinter Beaumont herlief. »Vandenberg hat, kurz bevor dein Flugzeug landete, Alarmbereitschaft angeordnet. Der Stützpunkt ist abgeriegelt…«
»Ich glaube, Tillotson kann einen Hubschrauber fliegen«, rief Beaumont zurück. Er kam jetzt richtig in Fahrt, seine Beine trugen ihn mit einer für seine Größe erstaunlichen Geschwindigkeit über den Schnee. Allein seine Willenskraft trieb ihn an. Sein Kopf schmerzte entsetzlich, das Blut an seinem Gesicht war in der bitteren Kälte erstarrt. Ihm war speiübel. In der eisigen Luft, die er im Laufen in tiefen Zügen einatmete, erholte er sich aber schnell.
Bei dem Postenstand, der seltsamerweise verlassen war, blieb er stehen und wartete, bis Grayson ihn eingeholt hatte. »Hast du ein Schießeisen, Sam? Gut, gib’s her, und bleib im Hintergrund.«
Er nahm den 45er Colt des Amerikaners und ging auf das Wachhaus zu. Irgend etwas lag im Schnee – gleich vor dem Betonblockhaus. Ein amerikanischer Soldat, der noch seinen Karabiner umklammert hielt, lag in seinem Parka auf dem Rücken und starrte in den arktischen Himmel. Beaumont kniete nieder, prüfte seinen Puls und rollte ihn aufs Gesicht. Er war tot. Der Blutfleck um das Einschußloch auf dem Rücken des Parkas war schon gefroren. Tillotson hatte einfaches Spiel gehabt, denn schließlich war er Sicherheitschef. Die Alarmbereitschaft bedeutete, daß niemand auf den Flugplatz durfte, also hatte Tillotson das Hindernis aus seinem Fluchtweg geräumt. »Er ist schon auf dem Flugplatz«, sagte er wütend zu Grayson, der hinzukam.
»Ich habe nie gehört, daß Tillotson fliegen kann«, warf Grayson ein.
»Ich glaube, er kann einen Hubschrauber fliegen – und in diesem Hangar stehen Hubschrauber.« Beaumont starrte angestrengt über das Gelände hinter der Umzäunung. Aber dort rührte sich nichts. »Ich habe ihn einmal in einer Maschine gesehen. Genau das wird er versuchen – mit einem Hubschrauber hier rauszukommen. Los!«
»Im Hangar stehen zwei Wachtposten«, erinnerte sich Grayson blitzartig. »In dem Wachhaus ist ein Telefon – wir müssen die Männer im Hangar warnen.«
Schon an der Tür des Wachhauses sah Beaumont die zwei Enden der durchschnittenen Telefonschnur. »Hat keinen Zweck, Sam, daran hat er gedacht. Aber wo steckt er, verdammt noch mal?« Beaumont rannte zu dem offenen Tor und schaute über die weiße Öde des Flugplatzes. Der Schneepflug.
Er war nur noch als Farbklecks auf dem Weiß zu erkennen. Wie ein orangefarbener Käfer kroch er auf den Hangar zu, wo die Hubschrauber untergebracht waren. Tillotson hatte das nächstbeste Transportmittel geschnappt, um schnell zum Hangar zu gelangen. Beaumont wollte rufen, um nur irgendwie die Männer zu warnen, die die Maschine bewachten. – Aber er war zu weit entfernt. Er atmete tief ein und rannte wieder lös, Grayson hinter ihm her.
Der Amerikaner trug Stiefel, Beaumont aber steckte noch in Schuhen mit Gummisohlen. Da der Schnee aber verkrustet war, bewältigte er die Strecke mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Er war einige Minuten gelaufen, als er in der Nähe des Hangars stolperte und kopfüber in den Schnee stürzte. Er raffte sich auf.
Sein Kopf schmerzte, sein Gesicht brannte, und er mußte nach dem Revolver suchen, der ihm aus der Hand geflogen war. Er fand ihn, halb im Schnee vergraben. In diesem Augenblick hörte er ein Geräusch, das ihn erstarren ließ: das rhythmische Pochen eines Hubschraubermotors. Die Waffe in der Hand, legte er die letzten zweihundert Meter zurück.
»Bleib zurück!« rief er Grayson zu.
Den Schneepflug hatte Tillotson am Eingang des Hangars abgestellt, die riesigen, automatisch betriebenen Tore standen schon offen. Mit letzter Willenskraft schleppte er sich weiter. Bis auf zehn Meter war er an das Tor herangekommen, als die Maschine erschien – eine Sikorsky H-19. Ihre Blätter rotierten schon hochtourig, als sie aus dem Dunkel auftauchte. Schnee wurde vom Boden hochgepeitscht und über das Flugfeld gewirbelt. Die Maschine rollte durch den aufgewühlten Schnee auf ihn zu. Im Mondlicht kam sie ihm ungeheuer groß vor.
Beaumont stand regungslos, dann nahm er sich zusammen und hob den Revolver, den er mit beiden Händen umspannte, um ruhig zielen zu können. Die Maschine kam immer näher; in zehn Sekunden würde sie über ihm rotieren. Er zielte auf das Cockpit, auf den verschwommenen Oberkörper hinter dem vereisten Plexiglas. Er atmete tief ein, zielte sorgfältig und drückte los. Der Hahn klickte. Er fühlte das Klicken mehr, als er es in dem Getöse des Hubschraubers, das auf sein Trommelfell hämmerte, hören konnte. Der Zündmechanismus funktionierte nicht. Der Revolver ging einfach nicht los.
»Paß auf!« schrie Grayson ihm zu; aber seine Warnung ging in dem Lärm unter.
Tillotson steuerte mit der Maschine genau auf ihn zu. Beaumont warf sich seitwärts auf den Boden. Beim Aufprall auf den Schnee rollte er sich über die Schulter ab, rollte weiter, mehrmals um die eigene Achse, während das scheußliche Dröhnen ihn fast betäubte. Der Motor hustete kurz, dann wurde das Dröhnen zu einem gleichmäßigen, zielstrebigen Pochen, und als Beaumont aufblickte, hatte die aufsteigende Maschine bereits die Höhe des Hangardaches erreicht. Er kniete sich hin und wischte den Schnee aus seinem Gesicht, den die rotierenden Blätter aufgewirbelt hatten. Grayson kam zu ihm herüber.
»Wir müssen hinter ihm her«, bestimmte Beaumont. »Er darf uns nicht entkommen – unser Leben hängt davon ab!«
Er warf nur einen kurzen Blick auf die zerquetschte Gestalt, die halb unter den grausamen Schrauben des Schneepflugs lag. Eine der Wachen. Es war ein leichtes Spiel gewesen, kaltblütig und brutal. Daß der Schneepflug auf dem Flugplatz auftauchte, war nichts Ungewöhnliches – der Soldat war ihm entgegengegangen – und Tillotson hatte ihn einfach überfahren. Im Eingang des Hangars stolperte Beaumont wieder und fiel fast über den Körper des zweiten Wachposten. Mit einem Blick erfaßte er, wie es passiert sein mußte. Tillotson hatte seinem Opfer einfach zugerufen: »Es ist etwas Entsetzliches passiert…« Bevor der junge Mann sich von dem Schock erholen konnte, war er bereits vom Messer getroffen. Im Schein seiner Taschenlampe sah Beaumont das Messer im Rücken des Toten.
Er ließ den nutzlosen Colt fallen, nahm den Karabiner des Soldaten an sich, der keine Chance gehabt hatte, ihn zu benutzen, und lief in den Hangar. Eine zweite Sikorsky stand hinten in der Halle unter einer Lampe. Die Maschine war an ein elektrisches Kabel angeschlossen, um das Einfrieren des Motors zu verhindern. Beaumont zog das Kabel heraus, kletterte auf die Maschine, öffnete die Tür und stieg in die Kanzel. Grayson folgte ihm.
»Er ist weg. Wir werden ihn niemals finden«, riet der Amerikaner ab.
»Wir werden ihn finden…« Beaumont setzte Helm und Kopfhörer auf, die immer auf dem Pilotensitz liegenblieben, streifte seine Parka ab und setzte sich an den Steuerknüppel. »Tür zu, Sam – es geht los.« Er überblickte das Armaturenbrett- Radarhöhenmesser, Kraftstoffanzeiger, Drehzahlmesser und die anderen Instrumente. Der Steuerknüppel zur Kontrolle der Flughöhe war links von ihm, der zyklische Steuerknüppel zur Flugrichtungskontrolle rechts. Ein Drehgashebel ähnlich dem Handgas bei Motorrädern war am Steuerknüppel angebracht. Beaumont startete den Motor.
Die ganze Kanzel erzitterte. Ohrenbetäubender Lärm dröhnte durch die Halle. Die Rotorblätter setzten sich schwerfällig in Bewegung, an – aus – an. Dann lief die Maschine mit voller Kraft. Im gespenstischen Licht des Armaturenbretts sah Beaumont wildentschlossen aus. Der Hubschrauber setzte sich in Bewegung, donnerte über den Betonboden und rollte aus der Halle. Der Radarmast, der in die Sterne zu greifen schien, kam in Sicht, und Beaumont drehte auf. Die siebzehn Meter langen Drehflügel durchjagten ihre Kreise, peitschten die arktische Luft, als wollten sie sich jeden Augenblick von der Maschine losreißen. Der Zeiger des Drehzahlmessers kletterte schnell. Die Maschine bebte wie ein riesiger, angeketteter Vogel, der verzweifelt versuchte, in die Freiheit zu entkommen. Dann stiegen sie auf.
Vor der Plexiglaskuppel, die sich über ihnen wölbte, sahen sie die Mauern des Hangars absteigen wie ein Lift. Das schneebedeckte Dach erschien, tauchte unter; Fahrzeugscheinwerfer schlängelten sich wie eine Kette von Glühwürmchen auf den Postenstand an der Flugplatzeinfahrt zu. »Sie haben’s endlich begriffen!« Beaumont sprach die Worte in das Mikrophon, das unter seinem Kinn am Kopfhörer hing. Grayson, der neben Beaumont im Beobachtersitz saß, hörte ihn durch seine eigenen Kopfhörer. Der Hubschrauber gewann an Höhe. Die Fahrzeuge huschten unter ihnen durch den Schnee. Das gedämpfte Dröhnen des Motors wurde plötzlich von Schüssen übertönt. Beaumont fluchte. »Sie schießen auf uns!«
»Warum denn, um Himmels willen?«
»Weil Vandenberg und Callard denken, Tillotson sei in dieser Maschine…«
Um den Gewehrsalven zu entkommen, stieg Beaumont senkrecht auf. Die Nadel des Höhenmessers kletterte. In der fahl schimmernden Nacht war von dem anderen Hubschrauber keine Spur zu sehen. Wieder einmal war Tillotson spurlos verschwunden. Beaumont drehte nach Osten ab, in die Richtung, in der er ›Krokodil‹ vermutete. »Und wer ist Callard?« fragte Grayson.
»Der Mann vom FBI, der hierhergekommen ist, um Tillotson festzunehmen. Alles war zu schön geplant – die Alarmbereitschaft, die du erwähntest, die kurz bevor die Boeing landete, angeordnet wurde und den Stützpunkt abriegelte. Callard steigt aus dem Flugzeug, fährt mit Oberst Vandenberg zum Lager, und sobald Tillotson eintrifft, stellen sie ihn zur Rede.« Beaumont behielt den östlichen Kurs bei und spähte nach vorn: außer der flachen Eisdecke nichts zu sehen. »Schön zurechtgelegt – dieser Plan von Mr. Callard«, fuhr Beaumont fort. »Er hat nur vergessen, das ›Krokodil‹ einzukalkulieren.«
»Was ist denn passiert?«
»Ich nehme an, Tillotson hatte eine leise Ahnung, daß man Verdacht schöpfte – schließlich war er der Sicherheitschef. Natürlich mußte er sich über den Alarmzustand wundern. Als nächstes erfährt er vom Piloten, daß Callard in letzter Minute in Washington an Bord gegangen war, ohne daß man Tillotson ein Wort davon gesagt hatte. Folglich denkt er, ist es höchste Eisenbahn für ihn. Ich glaube nicht, daß irgend jemand vermutet hat, daß er eine Sikorsky fliegen kann…«
»Da drüben! Richtung Norden…« Grayson zeigte mit dem Finger nach links, und Beaumont schaute hinüber. Nichts als Eis, trostlos, kalt und schrecklich öde. Dann sah er etwas. Tillotsons Maschine war schätzungsweise fünfzehn Kilometer entfernt.
Ein Schatten, ein kleiner dunkler Punkt huschte über den Schnee.
Sekunden später machte er die Maschine aus, die den Schatten warf. Er änderte die Richtung.
»Warum sollte unser Leben davon abhängen, daß wir Tillotson aufhalten?« fragte Grayson gelassen.
Beaumont brummte, während er auf denselben Kurs ging, den Tillotson flog. »Diesmal könnte es ganz schön wüst werden, Sam, du brauchst also nicht mitzukommen. Wir müssen einen sowjetischen Wissenschaftler aus Target 5 herausholen. Er kommt von Nordpol 17 über das Eis; das liegt im Moment etwa vierzig Kilometer östlich von Target 5 über das Packeis. Wir werden gebraucht, falls Target 5 von Nebel eingeschlossen werden sollte und kein Flugzeug landen kann. Das würde bedeuten, daß wir per Hubschrauber mit Schlitten bis an den Rand des Nebels geflogen werden; der restliche Weg wäre Schlittenfahrt.«
»Und mit Schlitten zurück – den ganzen Weg bis Grönland?«
»Ich glaube schon. Dawes ist anderer Meinung. Er hofft, uns wieder auflesen zu können, sobald wir aus dem Nebel raus sind. Ich bezweifle, daß sie uns finden werden. Also werden wir die ganze Strecke bis zur Küste mit den Schlitten zurücklegen müssen. Das ist jedenfalls die offizielle Version. Ich habe da eine andere Vorstellung. Und die russische Sicherheitstruppe wird uns auf den Fersen sein. Wirklich eine wüste Sache, Sam.«
»Aber nirgends ist Nebel.«
»Dann sitzen wir eben herum und lassen es uns auf Kosten der amerikanischen Armee schmecken. Der entscheidende Tag könnte Sonntag sein – morgen. Ich habe zwei Sikorskys für uns in Curtis Field an der Küste bereitstellen lassen.«
»Tillotson fliegt genau nach Norden«, unterrichtete ihn Grayson. Der Amerikaner benutzte jetzt ein Nachtfernglas, das er in der Kanzel gefunden hatte; der Schatten der Maschine des Sowjetagenten war immer noch klarer zu erkennen, als die Maschine selbst. Ohne den Schatten, dachte Grayson, hätten sie ihn schon längst verloren. Beaumont warf einen Blick auf den Kompaß. Genau Nord – wie Sam gesagt hatte.
»Ich schätze, er steuert auf den Humboldt-Gletscher zu«, erwiderte Beaumont. »Warum wohl? Wäre er direkt östlich geflogen, hätte er die Küste erreicht. Diese Maschinen stehen immer voll getankt bereit, also hätte er genug Treibstoff. Was zum Teufel hat er auf dem Humboldt-Gletscher verloren?«
»Warum ist der Mann so wichtig?« fragte Grayson zum zweitenmal.
»Weil er zuviel weiß«, sagte Beaumont knapp. »Er weiß nichts von Gorow, dem Mann, den wir herausholen sollen. Niemand hier wußte etwas davon bis zu meiner Ankunft. Aber er weiß von den Vorbereitungen für ein Unternehmen. Er weiß, daß Curtis Field damit zu tun hat. Das ist der nächste Flugplatz von Target 5 aus. Das mußte er wissen, weil wir die Maschinen dorthin schicken wollten. Ich hoffe nur, daß er keinen Sender dort oben versteckt hält, mit dem er, wenn wir ihn nicht rechtzeitig erwischen, nach Leningrad funken könnte. Wenn er das schafft, Sam, dann können wir unser Testament machen.«
Der atemberaubende Anblick des Humboldt-Gletschers entfaltete sich vor ihren Augen, als sie näher flogen. Vom Nährgebiet des Gletschers aus zog sich ein ausgedehnter, Hunderte von Metern breiter Eisstrom weit hinab zum Fjord – ein Eisstrom, der im Mondlicht glitzerte wie eine weite Fläche zertrümmerten Kristalls. Eine lange Strecke fiel er steil ab, bis er zum Eisfall wurde und über hundert Meter über einen gewaltigen Felsen hinabstürzte. Als sie näher kamen, konnten sie am Fuße des steilwandigen Fjords große Eisberge sehen, die am tiefverschneiten Ufer gestrandet waren. Tillotsons Sikorsky war schon gelandet und stand auf einer Kuppe gleich neben dem Gletscher. Tillotson selbst war zum drittenmal verschwunden.
»Ich habe das Gefühl, wir jagen einem Phantom nach«, knirschte Beaumont wütend, während er über dem abgestellten Hubschrauber kreiste. »Vielleicht sitzt er noch in der Maschine und wartet, bis wir landen, damit er auf uns schießen kann, bevor wir eine Chance haben, rauszukommen«, vermutete Grayson.
»Vielleicht…« Beaumont kreiste weiter in einer Höhe von etwa siebzig Metern. Ihm wurde fast schwindelig, als er den Steilhang des Gletschers absuchte. Dann kippte er die Maschine leicht. »Dort unten ist er! Siehst du weiter unten am Gletscher die kleinere Kuppe? Er bewegt sich gerade.«
»Kannst du auf der Kuppe landen?«
»Zu klein – wir könnten abrutschen. Wir gehen neben Tillotsons Maschine runter, dann kann er uns nicht entkommen. Du bleibst da, falls er mir entwischt – und versuchst weiter, Thule zu erreichen.«
Bereits fünfmal hatte Grayson versucht, Funkverbindung aufzunehmen, jedesmal ohne Erfolg. »Wenn man sie wirklich dringend braucht, funktionieren diese verdammten Dinger nie«, fluchte Beaumont. Er hielt den Hubschrauber nun auf der Stelle, senkte ihn dann langsam und landete fünfzig Meter von der anderen Maschine entfernt auf dem Hügel. Sie sah aus wie endgültig abgestellt, als hätte Tillotson gar nicht die Absicht, zu ihr zurückzukehren. Er stellte den Motor ab. »In einer Stunde müßte ich zurück sein, Sam«, sagte er beiläufig, während er sich in seinen Parka zwängte. Grayson nickte, wohl wissend, daß der Engländer, falls Tillotson ein Gewehr hatte, in weit weniger als einer Stunde bereits tot sein konnte. Aber während ihrer langen gefährlichen Fahrt nach Spitzbergen hatten die drei Männer – Beaumont, Grayson und Horst Langer – gelernt, kein überflüssiges Wort zu verlieren. Man kümmerte sich eben nur um seine Aufgabe. Und Beaumonts Aufgabe war jetzt, Tillotson gefangenzunehmen oder unschädlich zu machen.
Im Innern der Kanzel war es sehr warm. Beaumont nahm den Karabiner. Als er die Tür öffnete, mußte er sich zusammenreißen. Die Temperatur fiel augenblicklich von plus fünf auf minus vierzig Grad. »Dann wollen wir mal«, munterte er sich selbst auf. Er sprang aus der Maschine, der stahlharte Boden traf seine Füße wie ein Hammerschlag. Die starre Kälte erstickte ihn fast. Er zog den Parka bis unters Kinn zu und stülpte die Kapuze über. Hinter ihm knallte Grayson, ohne so etwas wie ein Wort des Lebewohls, schnell die Tür zu. Wie vorhin: kein vergeudetes Wort. Die Drehflügel über ihm hatten aufgehört zu kreisen, und ein unfaßbares Schweigen senkte sich auf ihn herab, das Schweigen der arktischen Nacht.
Während er an Tillotsons Sikorsky vorbei zum Hang des Hügels stapfte, versuchte er, flach zu atmen. Dann blieb er stehen und schaute über die ungeheure Weite des Gletscherhangs. Der zweite Hügel weiter unten am Gletscher war im Mondlicht klar zu erkennen: ein kleiner Buckel aus lauter Felsbrocken, überragt von einem groben Holzkreuz. Tillotson stand über irgendeinen Gegenstand gebeugt, den er unter dem Eskimograb versteckt gehalten haben mußte, einem auf Grönland geheiligten Ort, der laut Erlaß der dänischen Regierung unter keinen Umständen mißbraucht werden durfte. Beaumont konnte jetzt den Gegenstand erkennen: ein kastenähnliches Ding, aus dem eine Stange herausragte. Seine Gesichtszüge spannten sich. Tillotson hatte also ein Funkgerät.
Der Felsenrand des Gletschers war zu steil, um über ihn hinunterzukommen. So war er gezwungen, über den Gletscher selbst zu gehen. Vorsichtig ging er über das Eis – das Gewehr im Anschlag. Das Licht war zu diffus, um aus dieser Entfernung zu schießen. Der Untergrund kam ihm bedrohlich und heimtückisch vor. Es war fast, als kletterte er eine schräge Eisbahn hinunter, eine von Rinnen und Furchen gerippte Eisbahn. Seine gummibesohlten Schuhe waren nicht gerade das ideale Schuhwerk, und er fürchtete, daß er, wenn er einmal ins Rutschen käme, keinen Halt mehr finden und über den Rand des Eisfalls hinabschießen würde. Verbissen setzte er seinen Weg fort, so schnell, wie er überhaupt nur wagen konnte, da Tillotson möglicherweise schon dabei war, seine Nachrichten zu übermitteln. Der Sowjetagent war jetzt vollkommen außer Sicht. Die Kuppe verbarg ihn.
Weiter unten, wo der Gletscher stark zerklüftet war, wurde es noch viel gefährlicher. Spalten, deren Tiefe man nur erahnen konnte, dunkel klaffende Risse, verloren sich in ihren eigenen Schatten. Er kam jetzt langsamer vorwärts, da er vorsichtig von einer Eisrippe auf die andere treten mußte, die zwischen den schmalen Spalten hochragten. Dabei benutzte er den Karabiner als Stütze. Die ganze Zeit über war er darauf gefaßt, daß er ausrutschen würde. Die beißende Kälte machte die Sache auch nicht einfacher. Beaumonts Widerstandsfähigkeit gegen niedrige Temperaturen war phänomenal – wahrscheinlich weil er seine Jugend in Coppermine verbracht hatte. Aber er trug noch nicht die für arktisches Klima geeignete Kleidung. Die Kälte drang bereits durch seine Handschuhe und durch den Parka und kroch in den Beinen hoch.
Er war dem Hügel jetzt sehr nah und benutzte den Karabiner nicht mehr als Stütze, sondern hielt ihn schußbereit. Zum drittenmal innerhalb einer Minute schaute er auf. Tillotson tauchte von der anderen Seite des Hügels auf, eine große, pelzbekleidete Gestalt, die irgend etwas in der rechten Hand hielt. Tillotson stand etwa sieben Meter über dem Engländer. Seinen Arm streckte er rückwärts zum Wurf aus. Einen furchtbaren Augenblick lang, der ihm wie eine Ewigkeit erschien, dachte Beaumont, er würde eine Handgranate werfen. Er riß den Karabiner hoch, das Geschoß flog auf ihn zu, schlug vor ihm auf dem Eis auf – und prallte ab. Ein Stein. Blitzartig erfaßte Beaumont, daß Tillotson keine Waffe mehr hatte.
Er hatte entweder erstaunlich gut gezielt oder verdammtes Glück. Der Stein prallte vom Eis ab auf Beaumonts rechtes Bein zu. Er sprang zur Seite. Der Stein verfehlte ihn. Dann verlor er das Gleichgewicht, fiel hin und glitt wie ein Schlitten den Gletscher hinab – auf den Rand des Eisfalls zu.
Der Karabiner war weg. Er schlitterte seine eigene Bahn, war schneller als er und schoß über den Eisfall, währen Beaumont auf dem Bauch rutschte und verzweifelt versuchte, abzubremsen, irgendeinen Halt zu finden, eine Ritze, in die er seinen Fuß rammen könnte. Und während die schneidende Luft ihm ins Gesicht schlug und der Gletscher unter ihm vorbeiraste, dachte er schaudernd daran, daß er jeden Augenblick, anstatt weiterzuschlittern, plötzlich in die Tiefe stürzen könnte, daß er einen Halt in einer Gletscherspalte finden würde. Die Talfahrt ging weiter. Er glitt jetzt über die glattpolierte Oberfläche eines Hanges mit einer Neigung von etwa dreißig Grad. Der Parka schützte seinen Körper vor der Reibung und dem Schürfen des Eises; aber immer noch stürzte er mit zunehmender Geschwindigkeit abwärts. Mit seinen Handschuhen hämmerte er auf das Eis, die Schuhspitzen versuchte er einzurammen, aber er konnte die teuflische Fahrt nicht aufhalten.
Der Rand des Eisfalls, eine Gerade, hinter der nichts mehr war – nichts als ein Steilabhang von mehr als hundert Metern –, raste ihm entgegen, und immer noch konnte er nicht abbremsen, geschweige denn zum Stillstand kommen. Er hatte die perfekte Handlung für einen Kunstsprung über den Abgrund. Er stemmte seine Unterarme fest ein, erreichte den Rand und mußte im nächsten Augenblick hinübergleiten. Endlose, gähnende Leere und Tiefe unter ihm – und irgend etwas Kantiges. Sein linker Arm berührte den Felsen, einen großen, im Gletscher eingebetteten Brocken.
Es war reiner Reflex – sein Arm hakte ein und fand Halt an dem Felsen. Der momentane Ankerpunkt diente nur als Drehpunkt vor dem Sturz in den Abgrund. Sein flach auf dem Boden ausgestreckter Körper schwenkte nach links, glitt über den Rand. Seine linke Hand fühlte einen Vorsprung im Felsen, seine behandschuhten Finger krallten sich fest. Das Gewicht seines Körpers und der Schwung rissen ihm fast den Arm aus. Dann hing er reglos über dem Abgrund, gehalten nur von einer Hand und einem gekrümmten Arm, sein Körper schwebte im leeren Raum.
Für den Bruchteil einer Sekunde sah er unter sich das Nichts, den steilen Eisfelsen, der tief und tiefer abfiel, und am Boden das ausgedehnte Eisfeld, aus dem riesige Eisnadeln herausragten. Er zwang sich, nach oben zu schauen, konzentrierte seine letzte Energie darauf, sich festzuhalten und sich über den Rand des Eisfalles zurückzuschwingen. Mit dem rechten Arm umschlang er den Felsen, fühlte seine suchenden Finger die andere Hand berühren. Er krallte seine Hände ineinander. Erst dann schaute er an dem Felsen vorbei den Gletscher hinauf. Tillotson kam auf ihn zu.
Es war entsetzlich still – bis auf das Knirschen der Spikesstiefel, die sich in das Eis bohrten. Beaumonts Gesicht verzog sich: Tillotson trug Stiefel mit Eisspornen, die ihm einen sicheren Abstieg ermöglichten. Wo zum Teufel hatte er sie her? Er mußte sich die Stiefel im Jeep bereitgelegt haben; er mußte seine Flucht von Thule geplant haben, noch bevor die Boeing 707 gelandet war. Und in weniger als dreißig Sekunden würde der Amerikaner ihn erreicht haben. Zu spät für einen Versuch, über den Rand zurückzuklettern. Einen Augenblick lang schien Beaumonts Sehkraft zu schwinden – aus dem sich nähernden Tillotson wurden zwei Männer. Beaumont blinzelte. Die Vision löste sich auf zu einem einzelnen Mann, einem Mann mit einem Messer in der rechten Hand. Tillotson war schon ganz nah, als Beaumonts Kopf zur Seite fiel und seine rechte Hand ihren Halt verlor.
Sein rechter Arm hing erschlafft und kraftlos hinter dem Felsen. Das Zerren in seinem linken Arm war beängstigend, fast unerträglich, und seine Kleider unter dem Parka waren schweißnaß. Tillotson blieb etwa einen Meter vor dem Felsen stehen und stellte fest, daß er ihn von dort mit dem Messer nicht erreichen konnte. Nach zwei weiteren kurzen, vorsichtigen Schritten ließ er sich in Sitzstellung hinter dem Felsen nieder, hob seinen rechten Fuß und zielte mit den Eisspornen nach der Hand des Engländers. Die Spikes waren einen halben Zoll lang und eisverkrustet. Er holte aus, um mit voller Kraft die Spikes in den Handschuh zu stoßen.
In diesem Augenblick schnellte Beaumont seinen rechten Arm über den Felsen, umklammerte Tillotsons Fußgelenk und wuchtete es mit äußerster Anstrengung zur Seite. Die Spikes streiften Beaumonts linke Hand, Tillotson verlor das Gleichgewicht. Er kam ins Rutschen. Sein Körper schlitterte um die andere Seite des Felsens, wobei seine Hände fieberhaft nach einem Halt suchten. Seine Finger krallten sich in den Felsen, fanden einen Halt, und er glaubte sich gerettet. Beaumonts rechte Hand schlug noch einmal zu, diesmal mit der geballten Faust. Mit brutaler Gewalt schmetterte er sie auf das Nasenbein des Amerikaners. Tillotson brüllte auf, verlor erneut das Gleichgewicht und rutschte über den Rand des Eisfalls. Der Schrei hallte zurück den Eisfall herauf, ein langgezogener Schrei, der abrupt endete. Beaumont begann, sich zurück über den Rand zu ziehen.
Als er auf der anderen Seite des Felsens angelangt war, brach er zusammen. Er war noch bei Bewußtsein, aber kaum fähig, sich zu bewegen. Er lehnte sich gegen den Felsen und massierte müde seinen linken Arm. Mühsam kniete er sich hin und blickte über den Felsen in die Tiefe hinab. Tillotson war auf makabre Weise gestorben. Sein Körper steckte auf der Spitze einer der unzähligen Eisnadeln, in der Mitte aufgespießt.
»Du kannst uns zurückfliegen, Sam.«
Beaumont sackte im Beobachtersitz neben Grayson zusammen, der ihn fragend ansah. »Er hatte tatsächlich ein Funkgerät«, fuhr er fort. »Und zwar eins mit ziemlich großer Reichweite. Natürlich ›Radio Corporation of America‹, für den Fall, daß irgend jemand es gefunden hätte, was allerdings unwahrscheinlich gewesen wäre. Er hatte es in einem Eskimograb versteckt, und niemand würde darin herumschnüffeln. Fliegen wir los! Vandenberg kann jemanden schicken, das Funkgerät abzuholen.«
»Hat er gesendet?« fragte Grayson.
»Ich bin sicher, irgend etwas hat er gesendet. Vielleicht hat er nicht allzuviel Zeit gehabt. Die Nachricht könnte verstümmelt sein. Er muß sie verschlüsselt haben, bevor er Thule verließ.«
»Das werden wir wahrscheinlich nie erfahren.«
Beaumont sah Grayson an. »Und ob wir das erfahren werden! Spätestens dann, wenn die russische Sicherheitstruppe uns auf dem Eis einen warmen Empfang bereiten wird.«
Samstag, 19. Februar
»Ich weiß, warum Winthrop nach Leningrad gekommen ist. Ihre Gespenster sind inzwischen ganz schön lebendig geworden, Kramer!«
Samstagabend, acht Uhr – acht Stunden bevor Michael Gorow sich von Nordpol 17 abzusetzen plante, war Papanin noch in seinem Büro. Sein Zimmer war die reinste Hölle. Der grüne Kachelofen ließ den Raum und die Anwesenden schmoren. Der Sibirier liebte extreme Temperaturen. Er liebte sie seit seiner Kindheit in Omsk; wo die entsetzliche Kälte im Winter ihn geradezu in Schwung gebracht hatte, während sie jeden anderen lähmte. Andererseits hatte er sich auch immer in der Wärme der sibirischen Kachelöfen geaalt, wenn er ins Haus kam. Kramer dagegen schnappte nach Luft.
»Ich verstehe nicht, warum Sie sich plötzlich für Michael Gorow interessieren«, krächzte er mit trockener Stimme. »Was soll er mit dieser jüdischen Sache zu tun haben?«
»Sie werden das erst im nächsten Jahr kapieren, genau wie all die anderen. Und deshalb sitze ich auf diesem Stuhl, weil ich Dinge sehen kann, bevor sie überhaupt passieren.«
Papanin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände im Nacken. »Es war die Mannschaftsliste, die mich auf die Spur gebracht hat.«
»Sie meinen den Zweiten Steuermann, Peter Gorow?«
»Sie werden die Gespenster also doch noch schnappen.« Papanin betrachtete den Balten mit einem starren Blick. »Falls die Sie nicht zuerst erwischen. Erinnern Sie sich an den Fall Rachel Lewitzer, diese Jüdin, die versuchte zu fliehen und dabei die Treppe hinunterfiel?«
»Sie brach sich das Genick…«
»Und Michael Gorows Herz. Wußten Sie das?«
»Ich hab’ so was gehört…«
»Sie wurde vertuscht – diese Beziehung – wegen der Stellung, die Michael Gorow einnimmt. Wir haben nach einem dreckigen kleinen Boten gesucht, der große Summen aus Amerika einschmuggelt, irgend jemanden, der bei seiner Einreise am Flughafen jederzeit kontrolliert werden könnte. Ich glaube, sie sind gerissener gewesen…« Papanin legte eine Pause ein, um seinen Volltreffer wirkungsvoll zu landen: »Ich glaube, Michael Gorow, unser Meeresforscher persönlich, bringt das Geld ins Land.«
Kramer war verblüfft, entsetzt. Gebannt schaute er auf Papanin und versuchte zu erraten, was er im Sinn hatte, aber das war ein schier unlösbares Rätsel. »Das können Sie nicht im Ernst meinen«, sagte er schließlich. »Woher sollte er das Geld kriegen?«
»Das ist ja der Clou! Er hat drei Jahre in der Arktis verbracht mit der Planung und Verlegung des Katharina-Systems von Kabeln und Sonar-Bojen entlang dem Meeresboden. Er besuchte oft amerikanische Eisinseln, um zu sehen, was die so vorhatten.« Papanin schlug mit seiner riesigen Faust auf den Tisch. »Und das waren die Gelegenheiten – diese Besuche auf den amerikanischen Stützpunkten –, bei denen sie ihm das Geld zugesteckt haben. Er wurde nie durchsucht, wenn er zurückkam – daran hätte niemand im Traum gedacht.«
»Aber warum?« Kramer war verwirrt. »Warum sollte er das tun?«
»Seine verdammte jüdische Geliebte hat ihn dazu überredet. Er war drei Jahre lang mit ihr befreundet, bevor sie starb – und er tut es noch immer, ihrem Andenken zuliebe oder aus irgendeiner anderen verrückten Gefühlsduselei!«
»Das ist unglaublich…«
»Es ist logisch!« brüllte Papanin. »Er hat seinen Bruder Peter, den Zweiten Steuermann, diesen Monat in Kiew getroffen, als sie beide Urlaub hatten. Peter kommt hierher zurück, um an Bord seines Schiffes zu gehen – und auf dem Weg trifft er im Park diesen Amerikaner Winthrop. Er hat Winthrop eine mündliche Nachricht überbracht – von seinem Bruder Michael.«
»Wir müssen vorsichtig sein«, warnte Kramer. »Michael Gorow ist ein Freund von Marschall Gretschko*.«
»Gretschko ist ein arrogantes Schwein. Wenn ich mit Gorow recht behalte, dann garantiere ich Ihnen, daß Gretschko ihn kaum gekannt haben wird.«
»Trotzdem ist es gefährlich…«
»Vielleicht, aber es gibt noch jemanden, an den wir uns halten können – Peter Gorow, der ist nur Matrose. Sie haben die gegenwärtige Position der Girolog in Erfahrung gebracht?«
»Sie ist fünf Fahrtstunden von Reval entfernt…«
»Schicken Sie sofort ein Flugzeug nach Reval, das auf Gorow warten soll. Funken Sie dem Kapitän, er soll auf direktem Wege Reval anlaufen. Fünf Stunden bis zum Hafen, je eine halbe Stunde hin und zurück bei beiden Flughäfen, eine Stunde Flugzeit hierher. Peter Gorow müßte in sieben Stunden in meinem Büro sein – Sonntagmorgen drei Uhr. Warum stehen Sie hier noch rum, Kramer?«
Papanin, wieder allein in seinem überheizten Büro, zog sein kleines Reiseschachspiel hervor und konzentrierte sich auf das Brett. Der Sibirier, ein Mann mit vielen Talenten, war sowjetischer Großmeister im Schach. Im Juli würde er zum Schachmeisterschaftsspiel Spassky gegen Fischer auf Island sein. Offiziell würde er als einer von Spasskys Beratern fungieren; inoffiziell als Hauptrepräsentant der Sowjetunion, um die Sicherheitsvorkehrungen im Auge zu behalten.
Igor Papanin, nach außen hin eine auffallende und extrovertierte Persönlichkeit, war ein eiskalter, distanzierter Denker, für den die ganze Arktis nichts als ein gigantisches Schachbrett war. Es gab sowjetische Figuren und amerikanische Figuren auf dem Brett, und wie bei jedem Zweikampf müßte der Eröffnungszug sitzen. Schon erstaunlich, daß der Sibirier – betrachtete man die Rolle, die Keith Beaumont in dem bevorstehenden Kampf der Mächte spielen würde – die englische Eröffnung studierte.
»Eine Nachricht von ›Krokodil‹ ist gerade durchgekommen.« Kramer erwähnte die Neuigkeit ganz beiläufig, als er eine halbe Stunde später in das Büro des Sibiriers zurückkam, so, als hätte sie keinerlei Bedeutung. »Sie sind gerade dabei, sie zu entschlüsseln…«
Er unterbrach seinen Bericht, da Papanin weiter in der Personalakte von Michael Gorow las.
»Noch etwas?« brummte Papanin, ohne aufzusehen.
»Wer ist ›Krokodil‹?«
»Eine Person. Seine Identität ist nur General Syrtow und mir bekannt.« Nachdem er diese Abfuhr erteilt hatte, schaute Papanin auf. »Sowie die Nachricht entziffert ist, will ich sie sehen.«
Es war einundzwanzig Uhr, als Kramer mit der Nachricht wiederkam. Die Girolog hatte schon ihren Kurs geändert und steuerte südlich langsam durch das Eis auf den Hafen von Reval zu. Das Flugzeug, das Kramer beordert hatte, sollte in zehn Minuten auf dem Flughafen in Reval landen.
In Washington war es acht Stunden früher als in Leningrad. Dawes und Adams warteten mit wachsender Ungeduld auf ein Zeichen von einem Toten. Auf Grönland, wo es ebenfalls acht Stunden früher war, flogen Beaumont und Grayson gerade vom Humboldt-Gletscher nach Thule zurück. Eine Nachricht – die von Winthrop – würde nie ankommen. Die andere – von Tillotson – wurde gerade Papanin überreicht.
»Sie haben Schwierigkeiten damit gehabt«, erklärte Kramer. »Sie ist ziemlich verstümmelt. Der Funker sagt, er hätte sehr sprunghaft gesendet, und er ist sicher, sie ist nicht vollständig.«
Papanin las den Funkspruch: »Wie scharfsinnig beobachtet«, kommentierte er. Er strich sich über den fast kahlgeschorenen Kopf, während er die Mitteilung ein zweites Mal las. Amerikaner bereiten vor… über Packeis… Umgebung Target 5… Beaumont über Eis mit Ziel… amerikanische Flugzeuge Curtis Field… Beaumont Gruppe, 1.
Wortlos stand der Sibirier auf und schritt aus seinem Zimmer in das Büro nebenan, wo der amerikanische Fernschreiber immer noch pausenlos ratterte und einen Strom von Nachrichten aus sowjetischen Stützpunkten ausspuckte, die über die ganze Arktis verstreut waren.
Vier Männer hinter Stahltischen waren damit beschäftigt, Berichte zu schreiben und zu telefonieren. Papanin zog eine kleine geschwungene Pfeife aus seiner Kitteltasche und stopfte sie mit Tabak aus einem alten Tabaksbeutel, wobei er intensiv die Wandkarte studierte.
Sie war der riesigen Wandkarte in General Dawes Büro nicht unähnlich, nur war hier die Arktis aus einem anderen Blickwinkel zu sehen: Die russische Küste lag unten, nahe dem Boden, die entfernten Küsten Grönlands, Kanadas und Alaskas waren hoch oben in Deckennähe.
»Dort liegt Curtis Field«, sagte er zu Kramer und zeigte mit dem Pfeifenstiel auf den Flugplatz an der grönländischen Küste, die Target 5 am nächsten lag. Er rief einem der Männer an den Schreibtischen zu:
»Petrow, unterrichten Sie mich über den gegenwärtigen Stand der Schiffspositionen in diesem Gebiet…«
»Die Trawler-Flotte K 49, Oberst?«
»Das würde für den Anfang genügen.«
»Wie Sie sehen, liegt sie augenblicklich sehr weit nördlich von Island; aber sie bewegt sich jetzt südwärts, um das NATO-Manöver Seelöwe zu beobachten. Es sind zwölf Schiffe, alle mit der üblichen elektronischen Ausrüstung versehen.«
»Auch mit Funkstörgeräten?«
»Ja, Oberst. Der Hubschrauberträger Gorki westlich von Spitzbergen hat in derselben Mission nach Süden abgedreht…«
»Was ist mit der Revolution? Sie liegt der Eisberg-Gasse am nächsten.«
»Sie wird dort einige Wochen bleiben – sie überwacht amerikanische Satelliten.«
»Dieses amerikanische Schiff…«, Papanins Pfeifenstiel stieß gegen eine Markierung weiter oben.
»Der amerikanische Eisbrecher Elroy. Wir haben seine Position gerade verändert – vor weniger als einer Stunde. Er war auf dem Weg nach Süden und hat jetzt wieder genau Nord gedreht – ein Hubschrauber von der Gorki hat es beobachtet.«
»Vielen Dank.« Zu niederen Mitarbeitern war Papanin immer höflich; die höheren Beamten wie Kramer mußten sehen, wie sie mit ihm zurechtkamen. Er marschierte geradewegs zurück in sein Büro und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Seine sonst übliche explosive Art war verschwunden, und als er dem Balten seinen dramatischen Befehl erteilte, war seine Stimme ruhig und besonnen.
»Ordnen Sie Alarmbereitschaft für die ganze arktische Zone an, für jeden Küstenstützpunkt, jeden Flugplatz, jede Eisinsel einschließlich der Inseln vor der Küste Alaskas. Funken Sie Murmansk, daß sie einen Bison-Bomber Tag und Nacht voll aufgetankt bereithalten sollen. Geben Sie dem Leningrader Flughafen Anweisung, ein Flugzeug bereitzuhalten, das jederzeit binnen einer Stunde startklar sein kann, um mich nach Murmansk zu bringen…«
»Ich werde zuerst deswegen in Moskau nachfragen…«
»Schicken Sie Wronsky und sein Spezialkommando nach Murmansk – es muß in dreißig Minuten in der Luft sein…«
»Sicherlich müssen wir das an Moskau weitergeben.«
»Das Kommando wird Zivilkleidung tragen und voll ausgerüstet sein mit Handwaffen. Besorgen Sie mir den neuesten Wetterbericht von dem Gebiet um Target 5…«
»Ohne Rücksprache mit Moskau, Oberst? Operationen dieser Größenordnung bedürfen doch immer General Syrtows Genehmigung.«
Papanin nahm die Pfeife aus seinem breiten Mund. »Sie verstehen aber wirklich nicht, worum es geht, nicht wahr, Genosse? Den Anforderungen sind Sie wohl nicht gewachsen, wenn Sie plötzlich zwei Gespenstern auf einmal nachjagen sollen, nicht wahr?«
»Die Nachricht von ›Krokodil‹ ergibt keinen Sinn.«
»Sie würden einen Sinn darin sehen, wenn Sie ›Krokodil‹ kennen würden. Die Amerikaner planen irgendeine große Sache in der Nähe ihres schwimmenden Stützpunktes Target 5. Sie gebrauchen das Codewort Beaumont für diese Operation. Wir müssen unbedingt den Eröffnungszug machen.«
»Sie wollen immer noch Peter Gorow von Reval hergebracht haben?«
»Aber natürlich.« Papanin zündete erneut seine Pfeife an und beobachtete Kramer. »Das ist ein Problem für sich. Und jetzt«, fuhr er fort, ohne den Ton zu ändern, »machen Sie sich endlich auf die Socken.«
Curtis Field liegt auf einer hundert Meter hohen Klippe, die steil von der Ostküste Grönlands aufragt. Man kann sich darüber streiten, welche der beiden Erfahrungen mehr das Fürchten lehrt – Landung oder Abflug –, wahrscheinlich aber ist letztere die schlimmere. Die Flugzeuge starten von einer Startbahn, die am Rande einer Klippe endet. Beaumont hatte das so beschrieben: »Wenn man nichts mehr vor sich sieht, geht’s entweder aufwärts oder abwärts.«
Am Samstagabend um einundzwanzig Uhr, Washingtoner Zeit, war Beaumont marschbereit, nachdem er ein Bravourstück an Organisation durchgeführt hatte, das an ein Wunder grenzte. In den verflossenen sechzehn Stunden war er von Washington nach Thule geflogen; Tillotson auf den Fersen, war er zum Humboldt-Gletscher und zurückgeflogen, danach hatte er die ganze Breite Grönlands überflogen bis nach Curtis Field. Um neun Uhr abends war alles soweit – und Curtis Field hatte einen Wirbelwind zu spüren bekommen.
»Ich brauche diese zwei Sikorskys in zwei Stunden – total überholt und voll aufgetankt…«
»Unmöglich«, hatte Fuller, der Kommandant des Flugplatzes, zurückgefaucht.
»Dann kommandieren Sie mehr Leute ab dafür! Ich muß doch wohl nicht Dawes in Washington an den Draht holen? Schließlich sind Sie es, die in der Klemme sitzen…«
Fünf Minuten nach neun waren die Hubschrauber startklar. Ein Flugzeug war aufgestiegen, um die Wetterbedingungen um Target 5 zu sondieren. Es kam zurück mit der Meldung, daß es keinerlei Anzeichen von Nebel gab. Die zwei Schlitten waren von Camp Century herübergebracht und vollgepackt worden mit Proviant, einem starken Funkgerät, Gewehren und Munition – und einem Peilgerät.
»Wozu brauchen Sie denn das?«
»Für alle Fälle.«
Die Antwort war abrupt und nicht die Spur informativ. Ruhelos war Beaumont im Hangar herumgestreunt, von dessen Eisenträgern Eiszapfen hingen, hatte in alles seine Nase gesteckt, die Armaturen einer Sikorsky überprüft, beim Verstauen der Schlitten mit angepackt und zwischendurch immer wieder den Funkraum aufgesucht, um sich nach irgendwelchen Nachrichten aus Washington zu erkündigen. Mit seiner anscheinend grenzenlosen Energie hatte er das Flugplatzpersonal angesteckt und sie von der Dringlichkeit der Sache überzeugt, so daß sie sich nahezu überschlugen. Hätte Oberst Igor Papanin dieser Vorstellung beiwohnen können, sie hätte ihn nachdenklich gestimmt.
Ohne die Hilfe Sam Graysons, dieses kleinen drahtigen, fünfunddreißig Jahre alten Amerikaners, hätte Beaumont jedoch das Unmögliche nie möglich gemacht. Es war Grayson, der nervenaufreibende Stunden damit verbracht hatte, mit Thule zu telefonieren, dem riesigen amerikanischen Luftstützpunkt oberhalb der Baffin-Bai. »Ich brauche diese Hunde hier, und zwar sofort. Kein Flugzeug verfügbar? Nur eine Hercules, die gerade nach Point Barrow startet? Dann reißen Sie sich gefälligst aus Ihrem Ohrensessel und stoppen Sie sie! Hören Sie! Wenn sie startet, schicke ich Ihnen Dawes auf den Hals, der die Maschine in der Luft umkehren läßt.«
»Die Hunde hätten vor einer Stunde hier sein sollen«, knurrte Beaumont im Hintergrund.
Grayson drehte sich zu ihm um: »Keith, willst du sie sofort oder erst wenn sie ankommen?« wollte er wissen.
Beaumont grinste breit: »Sowohl als auch, möglichst noch schneller!«
Alle Teams in der Arktis handeln nach einer von nur zwei möglichen Arbeitsweisen. Ein britisches Team hat einen Anführer, und die anderen richten sich nach seinen Anweisungen; andere Nationalitäten arbeiten auf andere Weise – Amerikaner und Norweger demokratisch; sie tauschen ihre Meinungen untereinander aus. Beaumonts Dreimannteam stellt eine Ausnahme dar. Wie er mit einem trockenen Lächeln formuliert hatte: »Sie tun, was ich sage, weil sie wissen, daß ich recht habe.« Graysons Version hörte sich ein wenig anders an: »In einer Krise folgen wir Beaumont, streiten tun wir uns hinterher.« Horst Langers Version wich wiederum ab davon. »Wir haben drei Bosse, und es funktioniert. Wieso, weiß ich nicht.«
Sam Grayson, ein überragender Navigator, Meeresbiologe und erstklassiger Schütze, stammte aus Minneapolis. Vor seiner legendären Überquerung von Grönland nach Spitzbergen mit Beaumont und Langer hatte er für das amerikanische geologische Vermessungsamt und für das geologische Observatorium der Columbia-Universität gearbeitet. Er war ein alter arktischer Schneehase. Vor jedem Unternehmen beteuerte er seiner Frau: »Das ist vielleicht meine letzte Schlacht auf dem Eis – vielleicht werde ich es leid…« Die letzte Schlacht war es aber immer nur, bis das nächste Unternehmen anlief.
»Die Hunde sind gerade eingetroffen«, berichtete er Beaumont, zwei Stunden nachdem er Thule angerufen hatte.
»Vielleicht sollte Horst sie sich sofort einmal ansehen.«
Beaumont wandte sich dem dritten Mann ihres Teams, Horst Langer zu, der gerade in den winzigen Raum trat, den Grayson sich als sein Hauptquartier auserkoren hatte. »Die Hunde sind da. Was ist das für eine Hiobsbotschaft in deiner Hand?«
»Eine dringende Meldung von Dawes ist gerade durchgekommen – wir sollen uns für einen sofortigen Abmarsch bereithalten.«
Das Tiefdruckgebiet von unerhörtem, nie dagewesenem Ausmaß, das sich Ende Februar 1972 über Nordgrönland zusammenzog, traf sämtliche Meteorologen völlig unerwartet. Dies war das Tief, das später im Jahr das Wetter von Nordamerika und Westeuropa beeinflußte, das den Sommer nahezu in Winter verwandelte, Eisberge weiter südlich wandern ließ als je zuvor, die in transatlantische Schiffahrtslinien einbrachen und große Linienschiffe zur Kursänderung zwangen. Dies war auch das Tief, das den Nebel brachte.
Die sowjetischen Meteorologen auf Nowaja Semlja sahen es nicht heraufziehen. Das amerikanische Wetterflugzeug, das täglich von Mildenhall in Ostengland quer über das Dach der Welt nach Alaska fliegt, hatte es nicht gesichtet. Das US-Wetteramt sah es nicht voraus. Aber während Beaumont sich ruhelos in dem eiskalten Hangar in Curtis Field herumtrieb, bildete sich eine mehrere Kilometer weite und fast tausend Meter hohe Nebelbank. Gefrierender schwarzer Nebel tauchte nördlich von Target 5 auf und begann, sich stetig nach Süden zu bewegen.
Sonntag, 20. Februar
Man stirbt nur einmal. Aber manchmal hat man das Gefühl, hundert Tode zu sterben.
Für Peter Gorow war der Flug von Reval nach Leningrad ein Alptraum. Niemand wollte ihm den Grund für seine Rückbeorderung nennen oder ihm sagen, wer ihn in Leningrad sprechen wollte; aber er wurde behandelt wie ein König, als er morgens um ein Uhr von Bord der Girolog ging.
Eine schwarze Zil-Limousine mit Schneeketten fuhr ihn durch einen Schneesturm zum Flughafen. Als er das Flugzeug bestieg, das ihn erwartete, schüttelten die beiden Piloten ihm die Hand. Sie forderten ihn freundlich auf, im Cockpit mitzufliegen, und boten ihm einen Sitz hinter dem Kopiloten an. Der Alptraum begann in dem Moment, als sich das Flugzeug von der Startbahn abhob.
Beim Start wäre es fast abgestürzt. Noch am Boden, steuerten sie direkt auf den Kontrollturm zu, und der Kopilot brüllte: »Du schaffst es nie!« Er riß einen Arm hoch, als wollte er damit eine Kollision abwehren. Dann zog der Pilot die Maschine hoch und verpaßte den Turm um Haaresbreite – so jedenfalls kam es dem vor Angst erstarrten Gorow vor.
Aber das war nur der Anfang. Als das Flugzeug Höhe gewann und ostwärts von der vereisten Ostsee abdrehte, brachen die Piloten einen wütenden, endlosen Streit vom Zaun und beschuldigten sich gegenseitig. »Du Blödmann, Serge! Du hast nicht genug Gas gegeben…«
»Idiot! Es war schon zuviel Fahrt! Hättest ja selbst fliegen können!«
Der Streit tobte weiter. Von der technischen Terminologie verstand Gorow keine Silbe. Plötzlich kippte das Flugzeug zur Seite und fing an, mit beängstigender Geschwindigkeit abzusacken. Unter Fluchen gewann der Pilot die Kontrolle wieder und setzte mit kreischender Stimme seinen Zank fort. Zitternd beobachtete Gorow die Szene: Es schien, als würden sie sich mehr auf ihren Streit konzentrieren als auf das Fliegen. Seine Angst stieg, als die Maschine schlagartig steil nach oben stieß. Gorow, der in seinen Sitz zurückgepreßt wurde, erlitt Todesängste. Es war sein erster Flug. Auf halber Strecke nach Leningrad begannen sie zu trinken.
Der Streit legte sich urplötzlich, und die Piloten versöhnten sich mit einer Flasche Wodka. Aber ihre Höflichkeit dem verehrten Gast gegenüber ging nicht so weit, daß sie ihm einen Schluck angeboten hätten. Statt dessen leerten sie die Flasche selbst. Mit wachsendem Schrecken beobachtete Gorow, wie die Wirkung des Wodka sich in ihren Flugkünsten bemerkbar machte. Die Maschine taumelte hin und her, wenn sie wie ein Stein in Luftlöcher sackte und dann fast senkrecht wieder aufwärts schoß. »Der Wetterbericht war schlimm«, nuschelte Serge mit schwerer Zunge. »Wenn Sie nicht so wichtig wären, hätten wir das Flugzeug gar nicht erst bestiegen.«
»Wichtig für wen?« fragte der verwirrte Matrose.
»Vielleicht für den Ersten Sekretär. Woher zum Teufel soll ich das wissen?«
Zweimal mußte er schleunigst zu der kleinen engen Toilette laufen und sich übergeben. Als er nach dem zweiten Mal an seinen Platz zurückkehrte, war sein Kopf für einige Minuten klar. Er rechnete sich in etwa aus, daß er, wohin auch immer in Leningrad man ihn bringen würde, gegen drei Uhr morgens ankommen würde. Dann würde es auf Nordpol 17 elf Uhr abends sein, vier Stunden später als in Leningrad. Er war jetzt ziemlich sicher, daß man etwas über den Amerikaner erfahren hatte, daß man ihn ausfragen würde. Er mußte bis nach Mitternacht – der Zeit auf Nordpol 17 – durchhalten, was vier Uhr morgens in Leningrad bedeuten würde. Das hieß also, daß er noch über eine Stunde durchhalten mußte.
Als sie zur Landung in Leningrad ansetzten, hatte er das Gefühl, daß sein Hals enger zugeschnürt war als sein Magen durch die Gurte, die Serge ihm anzulegen empfohlen hatte. Als sie bei Schneefall hinabglitten, fiel der erste Motor aus, Sekunden später auch der zweite. Konnten sie mit nur zwei Motoren landen? Gorow hatte keine Ahnung. Der Pilot sprach mit einem Anflug von Hysterie mit der Bodenstation: »Mayday, Mayday, Notlandung…«
Gorow schloß die Augen, fühlte, wie sich in seinem Kopf alles drehte. Er öffnete sie wieder und sah die blendenden Lichter der Landebahn auf sich zukommen. Das Flugzeug schaukelte entsetzlich. Der Kopilot fluchte und fuchtelte mit der leeren Wodkaflasche vor Serge herum: »Du fliegst zu schnell an… Du bringst uns um.« Gorow saß schweißgebadet in seinem Sitz, unfähig, seine Augen von den ihnen entgegenrasenden Lichtern abzuwenden, die, von dem schaukelnden Flugzeug aus gesehen, zu kippen schienen. Seine Kleider waren klatschnaß, und sein Mund war ausgedörrt. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Sie waren betrunken, alle beide, diese Verbrecher. Er sah sich bereits auf grausamste Weise in den Flammen umkommen.
Im letzten Augenblick sprangen die zwei ausgefallenen Motoren wieder an, die Räder setzten mit einem heftigen Ruck auf der Landebahn auf, die Maschine glitt zwischen den Lichtern hindurch und legte eine perfekte Landung hin. Nachdem Gorow, ohne ein Wort mit ihnen zu reden, von Bord gegangen war, brach Serge in Gelächter aus und schwenkte die leere Flasche. »Mineralwasser kann ich nicht ausstehen! Was draufsteht, wäre mir lieber gewesen…«
Gorow würde nie erfahren, daß es die beiden erfahrensten Piloten der Baltik-Staffel gewesen waren, die ihn nach Leningrad geflogen hatten. Sie waren wahrscheinlich die einzigen Männer, die mit einem Flugzeug auf so fürchterliche Weise umgehen und dabei so glimpflich davonkommen konnten. Papanin persönlich hatte den Flughafenkommandanten in Reval angerufen und ihm seine Instruktionen erteilt: »Ich will, daß Sie ein kleines Spielchen mit unserem Passagier treiben. Er soll sich vor lauter Angst in die Hose machen. Nach der Landung muß er Pudding sein.«
Der Mann auf dem Stuhl schwitzte. Schweißperlen auf seinem Gesicht reflektierten das Scheinwerferlicht. Es war Angst – und der grüne Kachelofen. Papanin saß hinter seinem Schreibtisch im Halbdunkel. Die anderen Männer waren Schatten hinter dem Stuhl, entnervende Unbekannte, um Gorow seine Anwesenheit zu dokumentieren. Die Uhr an Peter Gorows linkem Handgelenk zeigte drei Uhr zwanzig.
Papanin, der völlig auf der falschen Spur war und immer noch glaubte, kurz vor der Entlarvung des Geldboten zu sein, der den jüdischen Untergrund finanzierte – tatsächlich hatte Michael Gorow nicht die geringste Beziehung zu dieser zwielichtigen Organisation gehabt –, hatte noch genau vierzig Minuten, um Gorows Widerstand zu brechen. In vierzig Minuten würde es in Leningrad vier Uhr sein und erst Mitternacht auf Nordpol 17. In vierzig Minuten würde Michael Gorow auf das Packeis verschwunden sein.
»Wir wollen noch mal wiederholen«, sagte Papanin. »Nur um sicherzugehen, daß ich alles richtig verstanden habe. Fangen Sie damit an, daß Sie in den Park gingen.«
Noch mal wiederholen – in Gorows Kopf drehte sich alles. In einem alten schrottreifen Wolga war er vom Flughafen hergebracht worden. Kramer hatte ihn ohne Mantel und bei offenem Fenster fahren lassen. Dabei war Gorow stark unterkühlt worden. Es war eine Idee Papanins: Plötzlich extreme Temperaturänderungen setzen die menschliche Widerstandskraft herab. Er hatte sich das überheizte Cockpit im Flugzeug vorgestellt, dann den halberfrorenen Gorow während der Fahrt vom Flughafen, und jetzt ließ er ihn wieder schmoren. Gorows Magen war leer, seine Nerven zerrüttet; und er war kaum noch zu irgendwelchen Gedanken fähig, als Papanin wiederholte: »Erzählen Sie alles noch mal von vorn.«
Gorow wußte nicht mehr, wie oft er alles schon erzählt hatte. Er versuchte, es herunterzuleiern wie einen Katechismus, während er fühlte, wie die Hitze des Ofens auf seinem Rücken brannte. »Ich ging in den Park.«
»Warum?«
»Ich war auf dem Weg zu den Docks.«
»Sie gingen also geradewegs über den Newski-Prospekt. Das ist der direkte Weg.«
»Ich ging über den Newski-Prospekt…« Seine Stimme war monoton, wie die eines Kindes, das Auswendiggelerntes hersagt.
»Das haben Sie nicht getan! Sie gingen in den Park! Warum?« Sie kamen zu dem Punkt, wo der Fußgänger auf dem Eis ausgerutscht war, und Papanin stellte die gleiche Frage, die er seit Gorows Ankunft immer wieder gestellt hatte. »Wir wollen seinen Namen wissen«, wiederholte der Sibirier. »Darum geht es. Wir wollen seinen Namen wissen…«
»Ich weiß den Namen des Amerikaners nicht…«
Gorow brach ab. Sofort war ihm klar, daß ihm ein fataler Fehler unterlaufen war. Papanin ließ ihn seinen Schrecken eine Minute lang ausschwitzen. Sie hatten Gorow gegenüber nichts davon erwähnt, daß Winthrop Amerikaner war; und Winthrops Kleidung hatte ihn aussehen lassen wie einen Russen. Und Winthrop hatte mit dem Seemann nicht gesprochen. Gorow hatte das immer wieder betont. »Bringt ihn nach unten«, sagte Papanin. Er wartete ab, bis er mit Kramer allein war. »Finden Sie heraus, was er weiß – schnell.«
Da ihr Opfer Seemann war und da der Alptraum eines jeden Seemannes das Ertrinken ist, wandten sie die Wassermethode an.
Im Keller, der ebenso eiskalt wie Papanins Zimmer glühend heiß war, fesselten sie Gorow auf eine verstellbare Liege und banden ihm die Augen zu. Er lag flach ausgestreckt auf dem Rücken. An Hals, Handgelenken und Beinen hatte man ihn an die Liege geschnallt. Irgendwo außerhalb seines Blickfeldes schwappte Wasser in einem Behälter.
»Welche Nachricht hat Ihnen der Amerikaner übergeben?«
Ein Mann packte Gorows Unterkiefer, ein anderer zwängte ihm einen großen Gummitrichter in den Mund, der dritte fing an, Wasser in den Trichter zu gießen. Sofort hatte er das Gefühl zu ersticken; das Gefühl des Ertrinkens kam später. Auf einem Hocker neben seinem Patienten saß ein Arzt, der ein Stethoskop an Gorows nackte Brust hielt.
Für Gorow, der flach auf dem Rücken lag, blind und unfähig, sich zu bewegen, bestand die Welt aus Wasser – Wasser, das in seinen Mund floß, Wasser, das in seine Kehle strömte, Wasser, das sich in seine Lungen ergoß. Verzweifelt versuchte er, Arme und Brust zu heben, versuchte, den Atem anzuhalten; und dann spuckte er, würgte – von Schmerzen geschüttelt – erbrach sich, war dem Ersticken nah. Sein ganzer Körper schien anzuschwellen und drohte zu bersten. Seine Augen quollen hervor, seine Halsmuskeln strafften sich und erschlafften wieder. Er versuchte zu schreien. Aber der Schrei erstickte, und Gorow wußte, daß er starb, ertrank. Sie gossen weiter Wasser, bis der Arzt zu Kramer hinüberschaute. Der Balte nickte. Jemand traf auf einen Fußhebel unter der Liege, das Kopfende der Liege schnellte nach oben und brachte Gorow in Sitzstellung. Der Matrose würgte, spuckte, schnappte nach Luft. Sein Kopf baumelte nach unten, er hechelte unregelmäßig. Kramer nahm die Augenbinde ab, faßte unter Gorows Kinn und hob seinen Kopf.
»Welche Nachricht hat Ihnen der Amerikaner übergeben?«
Glasige Augen starrten auf Kramer zurück, Augen voll Haß. Zweimal versuchte er zu sprechen, sah auf sein linkes Handgelenk, und zweimal brachte er nur ein heiseres Krächzen heraus, einen kaum menschenähnlichen Laut. Sie hatten ihm die Uhr abgenommen. Das war für Gorow die größte Qual: Er hatte keine Ahnung, wieviel Zeit verstrichen war, nichts, was ihm sagen konnte, wie lange er noch durchhalten mußte. Beim drittenmal gelang es ihm, die Worte herauszubringen: »Keine Nachricht…«, wobei seine Augen Kramer haßerfüllt anfunkelten.
Der Balte wußte jetzt, daß die Widerstandskraft Gorows groß war. Es würde eine halbe Stunde dauern, vermutete er, vielleicht aber auch weniger. Wenn der Haß verschwinden würde, abgelöst von Todesqualen, dann würden sie ihrem Ziel näherkommen. Er nickte, und sie wiederholten die Behandlung. Gorow schätzte, daß gut zwanzig Minuten vergangen sein müßten. Tatsächlich waren es aber weniger als fünf Minuten, seitdem sie ihn in den Keller gebracht hatten.
Die Lokomotive kam allmählich in Fahrt. Papanin brachte seine Leute auf Trab, als wäre er erst gerade vor einer Stunde aufgestanden. In Wirklichkeit hatte er inzwischen zweiundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Nicht die Nachricht, mit der der Balte in das Zimmer stürzte, war es, die seine fieberhafte Aktivität in Gang gebracht hatte. Wieder einmal nahm er dem dicken Balten den Wind aus den Segeln.
»Michael Gorow will zu den Amerikanern überlaufen…«
»Dazu haben Sie zwei Stunden gebraucht. Kramer.« Papanin sah auf die Wanduhr, die fünf Uhr dreißig anzeigte. »Dieser Steuermann ist ein tapferer Mann, und Sie sind zu spät mit Ihren Neuigkeiten; diese Meldung ist gerade aus Nordpol 17 eingetroffen.« Er reichte das Papier dem Balten, der durch den plötzlichen Temperaturwechsel in Schweiß ausbrach, während er las. Michael Gorow Mitternacht mit Hundegespann von Nordpol 17 entflohen. Sicherheitsmann Marow tot im Eis aufgefunden. Suchtrupps ausgeschickt. Erbitte Anweisungen. Minsky. –
In weniger als einer Minute hatte Papanin handschriftlich seine Antwort hingekritzelt, mit der Petrow in die Nachrichtenzentrale lief: – Senden Sie alle verfügbaren Hubschrauber weiter westlich, als Gorow gekommen sein kann. Gründlich durchkämmen zurück bis Nordpol 17. Melden Sie unverzüglich irgendwelche Aktivitäten um Target 5. Papanin. –
Er wies Kramer an, erstens mit Murmansk Verbindung aufzunehmen, um festzustellen, ob der Bison-Bomber zu sofortigem Start bereit sei, zweitens vom Leningrader Flughafen die Bestätigung einzuholen, daß ein Flugzeug startklar bereitstand; drittens per Funk bei der Trawler-Flotte K 49 und bei der Revolution Informationen über amerikanische Aktivität in diesem Gebiet anzufordern und schließlich viertens dem Hubschrauberträger Gorki den Auftrag zu geben, unverzüglich die gegenwärtige Position des amerikanischen Eisbrechers Elroy festzustellen.
Er rief General Boris Syrtow, den Chef des Sicherheitsdienstes für besondere Aufgaben in Moskau an, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß er ihn um halb sechs in der Frühe vielleicht aus dem Bett holen könnte. Aber Syrtow war gerade selbst schon im Begriff, den Sibirier anzurufen; das Gespräch wurde mit einem Gefecht eröffnet.
»Papanin!« Syrtows Ton war scharf. »Ich höre gerade aus Murmansk, daß Sie Alarmbereitschaft für die Arktis angeordnet hätten. Das stimmt doch wohl nicht, oder?«
»Es stimmt, General…«
»Ohne meine Ermächtigung?«
»Es war eine dringende Vorsichtsmaßnahme…«
»Breschnew hat davon erfahren. Ich muß sofort in den Kreml.«
»Gut…«
»Was haben Sie gesagt?« brüllte Syrtow.
»Die Vorsichtsmaßnahmen waren gerechtfertigt«, raunzte Papanin zurück. Jetzt fuhr er sein Geschütz auf. »Michael Gorow ist über das Eis geflüchtet… Er bringt den Amerikanern mehr als nur sein Gehirn. Soeben habe ich in Erfahrung gebracht, daß er zwei Stunden im Geheimarchiv zugebracht hat, als ich in Moskau war. Ich fürchte, er hat die Katharina-Dokumente fotografiert. Er bringt ihnen eine Kopie unseres gesamten Unterwassersystems.«
Syrtows Zorn erlosch. Seine chronische Angst überkam ihn statt dessen. Er erkundigte sich, welche Befugnisse Papanin brauchte. Die Antwort warf ihn um.
»Persönliche Befehlsgewalt über den Träger Gorki, die Trawler-Flotte K 49 und das Forschungsschiff Revolution…«
»Sie wissen, das hat es noch nie gegeben.«
»Die Situation hat es noch nie gegeben. Der Erste Parteisekretär kann die Einwilligung geben. Deshalb bin ich froh, daß Sie zu ihm gehen.«
»Ich werde mich wieder bei Ihnen melden«, sagte Syrtow kurz. »Setzen Sie in der Zwischenzeit Ihre Vorbereitungen fort.«
»Ist bereits geschehen, einschließlich des Befehls zur Alarmbereitschaft vor neun Stunden ohne Ihre Vollmacht, der uns Zeit von unschätzbarem Wert eingebracht hat…« Mit Genugtuung hörte Papanin das Knacken, als am anderen Ende der Leitung der Hörer aufgelegt wurde. Als er aufschaute, kam gerade Kramer herein, gespannt auf Neuigkeiten. »Schnappen Sie sich Ihre Wärmflasche, Kramer; in vierundzwanzig Stunden sind wir in der Arktis.«
Genau um ein Uhr Sonntag früh knipste in Washington Lemuel Dawes das Licht über seinem Feldbett an, das er in seinem Büro aufgestellt hatte, und sah nach der Uhr. Wie gewöhnlich hatte ihn seine innere Uhr pünktlich geweckt. Er hatte Kopfschmerzen. Kein Wunder – die Hitze, der Mangel an frischer Luft und die tropischen Pflanzen, die zwei Wände fast völlig verbargen, schufen ein Klima, das man nicht anders als ekelhaft nennen konnte. Zehn Minuten später klopfte Adams an seine Tür und kam herein.
»Keine Nachricht aus Helsinki«, sagte er ernst. »Aber das Flugzeug könnte Verspätung haben – vielleicht kommt er noch durch.«
»Sie meinen, wir sollen warten?«
»Ja.«
»Das könnte ein Fehler sein.« Dawes kratzte sein zerzaustes Haar. »Aber im Augenblick können wir kaum etwas daran ändern. Gorow könnte schon auf dem Eis sein, wir könnten jetzt zwar ein Flugzeug nach Target 5 schicken, aber das wäre gewagt.
Falls Gorow noch nicht unterwegs ist, könnte jede ungewöhnliche Bewegung auf Target 5 die Russen aufmerksam machen.«
Während also Beaumont im weitentfernten Curtis Field am Rande der grönländischen Eiskappe vor lauter Ungeduld bereits die Wände hochging und während Dawes auf ein Zeichen von einem Mann wartete, der seit vierzig Stunden bereits tot war, steckte Oberst Papanin mitten in seinen intensiven Vorbereitungen, und es sah so aus, als würde er das Spiel gewinnen, bevor es überhaupt angefangen hatte.
Sonntag, zwölf Uhr mittags, schritt Leonid Breschnew, der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken, in Begleitung von General Boris Syrtow forsch in das Büro von Oberst Papanin. Wie immer trug Breschnew unter seinem Pelzmantel einen eleganten dunklen Anzug. Sein dichtes Haar war tadellos gebürstet. In Detroit hätte man ihn leicht für den Generaldirektor von Ford halten können. Niemand half ihm aus dem Mantel; der Erste Sekretär haßte es, wenn man seinetwegen Umstände machte. Er kam immer sofort zur Sache.
»Papanin, Sie haben die Befehlsgewalt über sechs Schiffe der Trawler-Flotte, über den Hubschrauberträger Gorki und das Forschungsschiff Revolution. Keins von diesen Schiffen wird den Anschein erwecken, daß es sich um ein militärisches Unternehmen handelt. Es sind alles Schiffe der zivilen Schiffahrt sozusagen. Sie verstehen, was ich meine?«
»Es darf keinen internationalen Zwischenfall geben.«
»Keinen internationalen Zwischenfall«, bestätigte Breschnew. »Im Mai kommt der amerikanische Präsident nach Moskau zu einem Gipfeltreffen; und mir liegt sehr daran, daß er kommt. Seien Sie also vorsichtig.«
»Aber es könnte zu einem kleineren internationalen Unfall kommen«, sagte Papanin unverblümt. »Ich kenne diese Gegend. Es kann alles mögliche dort passieren. Es könnten Männer in offene Wasserrinnen fallen oder für immer in einem Schneesturm verschwinden…«
Breschnew hob abwehrend seine gepflegte Hand. »Keine Einzelheiten bitte. Ich gebe zu, es gibt einen himmelweiten Unterschied zwischen einem Zwischenfall und einem Unfall – das ist Ihr Spezialgebiet.« Er betonte jedes Wort mit Nachdruck, wobei er seine buschigen Augenbrauen hob. »Aber Sie müssen mir Gorow wiederbringen! Weder er noch die Katharina-Karten dürfen jemals Washington erreichen. Ich bin persönlich hierhergeflogen, um zu betonen, von welch eminenter Wichtigkeit diese Angelegenheit für uns ist.«
»Wir sind den Amerikanern bereits drei Züge voraus«, erwiderte Papanin. »Das ist die Hauptsache…«
»Wir müssen ihnen voraus bleiben.« Breschnew schaute zu Syrtow, einem kleinen Mann mit hagerem Gesicht und gereiztem Blick, der eine Ledermappe trug. »Der General hat Kode und Frequenzen für Sie, auf denen Sie sich mit diesen Schiffen verständigen müssen. Sie haben schon Befehl bekommen, in das betreffende Gebiet vorzurücken.«
»Ich würde gerne sofort losfahren.« Papanin nahm die Mappe von Syrtow entgegen. »Ich denke, wir werden gerade noch rechtzeitig kommen…«
Breschnew ergriff den Arm des Sibiriers: »Igor, Sie müssen rechtzeitig sein. Sie müssen.«
Es war drei Uhr in Murmansk, als Papanin an Bord des vollbesetzten Bison-Bombers ging. Am Sonntag, dem 20. Februar, um drei Uhr nachmittags war es in Murmansk bereits Nacht, eine klare Mondnacht. Die vier Düsen heulten mit ohrenbetäubendem Lärm auf, als der Sibirier sich in einen behelfsmäßigen Sitz in der Nähe des Cockpits niederließ und eine Karte ausbreitete, auf der er die neueste Position des amerikanischen Eisbrechers Elroy eintrug. Hinter ihm war das ganze kahle Deck ohne Sitze vollgepackt mit pelzbekleideten Männern, die ihre Gewehre an sich preßten. Die enorme Kraft der Triebwerke steigerte sich, Schnee stob auf von der kürzlich gepflügten Startbahn, dann gab der Kontrollturm Start frei, und die vibrierende Maschine setzte sich in Bewegung.
Vom Kontrollturm aus konnte man die rotglühenden Austrittsgase der Triebwerke sehen, als die Maschine davonrollte, die Richtung änderte und auf die Hauptstartbahn kam. Danach wurde die Maschine erst richtig lebendig, die Düsen stießen das dem Bison eigene Dröhnen aus, die Räder rasten über die Startbahn, hoben vom Boden ab. Als der Bomber steil aufstieg, prallte der Austrittsschub der Düsen auf die Startbahn wie Gewehrsalven, fegte den Schnee von dem Beton und schleuderte weiße Wolken auf. Fünf Minuten später war er nur noch ein Kondensstreifen in zehntausend Meter Höhe. Papanin war unterwegs. Ziel: Nordpol 17.
»Immer noch keine Nachricht aus Helsinki.« Adams reichte Dawes das Papier und nahm Platz. »Das ist gerade eingetroffen – langsam glaube ich, daß Winthrop etwas passiert ist…«
»Das habe ich vor Stunden vermutet.« Dawes beachtete das Papier kaum. »Ich möchte wetten, Sie werden noch lange auf ihn warten.«
Ironischerweise war es Papanin, der Dawes alarmierte. Seit Stunden hatte er mit wachsender Besorgnis einen Strom von Informationen erhalten, die von Schiffen, Wetterflugzeugen und Satelliten kamen, die hoch über der Arktis kreisten – und alle Nachrichten deuteten darauf hin, daß etwas Ungewöhnliches im Gange war.
Als erstes hörte Dawes, daß der sowjetische Träger Gorki seinen Kurs geändert hatte, daß er mit voller Kraft nach Norden auf das Eisfeld zufuhr. Eine Stunde später kam die Meldung durch, daß sechs Schiffe der Trawler-Flotte K 49, Schiffe, die vollgestopft waren mit elektronischer Ausrüstung, ebenfalls nach Norden abgedreht hatten, wobei sie ihr offensichtliches Vorhaben, bei dem NATO-Manöver Seelöwe herumzuspionieren, aufgegeben hatten. Schließlich hatte er erfahren, daß das riesige neue sowjetische Forschungsschiff Revolution, das auf seiner Jungfernfahrt mit Spähauftrag war und direkt von der Nikolajew-Werft an der Schwarzmeerküste kam, ebenfalls Kurs geändert hatte. »Es fährt direkt auf den Schlund der Eisberg-Gasse zu«, hatte er Adams mitgeteilt und dann sofort ein dringendes Telefongespräch geführt.
Nur dreißig Minuten später war ein unauffällig gekleideter Mann mit Hornbrille in Dawes’ Büro eingetroffen. Der Assistent des Präsidenten, sein engster Vertrauter, hatte eine Viertelstunde lang intensiv zugehört, bevor er selbst redete.
»Lemuel, die Lage ist so: Wenn der Präsident mit den Katharina-Karten in der Tasche zum Gipfeltreffen nach Moskau geht, könnte er aus einer ungeheuer starken Position heraus verhandeln – und die Russen würden vielleicht die Konzessionen machen, die wir von ihnen wünschen…«
Dawes hatte die Vollmacht zu selbständigen Entscheidungen ohne vorherige Rücksprache mit Washington erhalten. »Vorausgesetzt, Sie beschwören keinen internationalen Zwischenfall herauf«, hatte der brillante, in Deutschland geborene persönliche Berater gewarnt. »Das könnte das Gipfeltreffen verderben…«
Dawes dachte an diese Bedingung, als er ein Blatt Papier aus seiner Tasche nahm und es Adams reichte. »Ich habe Ihnen noch nicht den Wetterbericht gezeigt, der soeben durchgekommen ist. Dichter Nebel ist aus dem Nichts aufgetaucht und hat Target 5 völlig zugedeckt. Es sieht so aus, als würde es doch eine Operation Beaumont werden.«
Adams sagte nichts zu dem Wetterbericht, legte nur den Sicherheitsgurt an. Die Boeing, mit der sie flogen, verlor bereits an Höhe, und in der Ferne leuchtete die Doppelreihe der Landebahnlichter durch die weiße Nacht. Die erste, seiner Entscheidungen hatte Dawes getroffen: Er flog an den Rand des Schachbrettes, um sich selbst ein Bild zu machen. Ziel: Curtis Field.